„Philoktet“ von Heiner Müller im Berliner Ensemble, Regie Josef Szeiler

 

 

 

 

Einziger Einfall: Krieger im Adamskostüm

 

 

Gestylte Langeweile im Berliner Ensemble. Josef Szeiler aus Österreich, dem es in Tokio gelang, Heiner Müllers Einakter „Hamletmaschine" auf zwölf Stunden auszudehnen und auf einem Symposium vierzig Minuten Schweigen bei geöffneten Türen als Kunst zu verkaufen, dieser wahre „Neuerer" beglückt nun das Berliner Publikum mit einem Regie-Attentat auf Heiner Müllers Tragödie „Philoktet". Das Geschäft ist angeblich ein Experiment zur Entwicklung von Schauspiel- und Zuschaukunst.

Der einzig wirklich nennenswerte Einfall des Herrn Szeiler ist, die Griechen Odysseus und Neoptolemos glatzköpfig und im Adamskostüm auftreten zu lassen, schamhaft bedeckt nur ihre Füße mit derben Schnürschuhen. Ich wußte bis dato nicht, daß diese sagenhaften Krieger so demonstrativ kreatürlich in die Schlacht und gar zu besonderer Mission auszuziehen pflegten. Ein gewisser Show-Wert ist also auf alle Fälle sicher, denn die Männer posieren als antike Skulpturen nachdrücklich nach allen Seiten.

Mit solcher Abstrahierung folgt der Arrangeur scheinbar dem Dichter. Müller meint zu seinem Stück, die Handlung sei „Modell, nicht Historie". Also werden bei Szeiler nicht Auseinandersetzungen zwischen Menschen erkundet und spielerisch vorgeführt, sondern zwei Figuranten stehen, hocken oder liegen herum und reden den Text sachlich herunter wie emotionslose Nachrichtensprecher. Man sieht eine „Sprechung". Und nicht einmal das konsequent. Oft wird auf das Licht verzichtet und Hörspiel veranstaltet. Eine Stimme aus dem Off vermittelt Müllers Anweisungen, etwa „geht", „nimmt", „rennt" und dergleichen. Derweil dämmern die Gestalten im Dustern oder positionieren sich neu.

Ausgenommen der Titelheld. Philoktet, der vor zehn Jahren von den Griechen auf Lemnos ausgesetzt wurde, hockt gebrochen herum. Nicht etwa, um seine auf der rauhen Insel verblüffend gut erhaltenen Jeans auch weiterhin zu schonen. Nein, er ist schwer fußkrank. Er bleibt in einer Ecke des weit ins Parkett dislozierten Spielraumes (zuständig Mark Lammert) und liest seinen Text ein, trotz Mikrophon aber leider nahezu unverständlich. Ein Großväterchen, das vorwurfsvoll über sein Schicksal brabbelt.

Man kommt ins Grübeln. Warum der Aufwand für einen nunmehr so Hinfälligen? Sind Odysseus und Neoptolemos blind? Sie wollen den einst verschmähten, nun vergreisten Philoktet als Schlachtroß für ihre Keilerei gegen Troja aus der Verbannung zurückholen. Er ist mit seinem Bogen in ihren Augen eine Art Wunderwaffe und soll ihnen helfen, den Laden zu schmeißen. Leider kann man sie nicht aufklären. Herrschaften, möchte man rufen, die Mühe lohnt nicht. Dieser Alte hat nicht nur seinen Haß und einen schlimmen Fuß, der ist ausgemustert. Man muß still sitzen und zuhören, wie die zwei Recken, die sich ja eigentlich gar nicht mögen, ihre verschwörerischen Absichten erörtern. Antike Troika-Probleme sozusagen, demonstriert als ferne zelebrale Angelegenheit.

Müllers theatrale Zerreißprobe jedenfalls findet nicht statt. Selbst dessen nachdrücklicher Wunsch bleibt unerfüllt, am Ende den Umschlag der Tragödie in die Farce vorzuführen, wenn nämlich ein „politisches Tier" die Bühne betritt, wenn Odysseus beginnt, die ideologische Verwertung des toten Philoktet zu betreiben. 1977 am Deutschen Theater mit Alexander Lang, Christian Grashof und Roman Kaminski wurde im Bild der Sophokleischen Gestalten sichtbar, welch menschenverachtende Folgen eine Ideologie der Macht haben kann. Der zwangsläufige Ablauf im gegebenen sozialen System, schauspielerisch ausgereizt, ergab die erschütternde Tragödie.

Bei Szeiler: Inspirationslose Monotonie. Philoktet schreit zwei-, dreimal. Auch gibt es eine Flüster-Passage zwischen Odysseus und Neoptolemos. Ansonsten ermüdend uniformes Gerede. Eine penetrante Form stellt sich vor die Inhalte. Statt die Gedanken mit Geste und Sprache zu vermitteln, werden sie entseelt, wird Müllers bildkräftige, plastische Sprache abgeflacht und entmündigt. Und das an einem Haus, an dem Marianne Hoppe vormacht, was deutsche Bühnensprache vermag, und Darsteller wie Annemone Haase, Martin Wuttke oder Veit Schubert zeigen, was sprecherisch differenziertes Schauspielen heißt. Nach dem faszinierenden „Ui" ein bedauernswerter Fall von Regie-Dilettantismus.

Anzufügen noch: Der Regisseur vernutzte Fritz Marquardt als Philoktet, Nino Sandow als Odysseus und Uwe Preuß als Neoptolemos. Er scheute das Publikum.

Kurzer, müder Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 20. November 1995