Heiner Müllers „Philoktet“ in der Regie von Stephan Suschke am Berliner Ensemble

 

 

Heuchelei und keine Hoffnung

 

Als man sich am Berliner Ensemble entschloß, Heiner Müllers Tragödie »Philoktet« nach dem inszenatorischen Debakel von 1995 noch einmal auszuprobieren, waren wohl eher ästhetische Erwägungen im Spiel, kaum politische. Vor vier Jahren hatte Josef Szeiler, ein dilettierender Regisseur, das Stück vor den Augen des todkranken Dichters regelrecht hingerichtet, nämlich mit formalem Brimborium (die Akteure bis auf martialische Schnürstiefel nackt), vom Inhalt ablenkend. Jetzt hat Stephan Suschke mit einer glänzenden Regieleistung nicht nur vorgeführt, wie viel gestisches Material in Heiner Müllers krud-monumentalem Text steckt; er hat dessen bedrückende Botschaft sinnfällig offengelegt. Und noch während der Proben lieferten ihm Politiker unerwartet das aktuelle Beispiel.

 

Faustdicke, ungeheuerliche Lügen zur Rechtfertigung eines barbarischen Aggressions-Krieges - seit nun schon zwei Wochen kann man sie Stunde für Stunde in fast allen Medien und in allen Schattierungen verfolgen. Nichts hat sich geändert seit Entstehung antiker Sagen. Immer wieder lassen sich Menschen manipulieren. Damals unter Odysseus die vereinten Stämme der Griechen vor Troja (Anlaß die Entführung Helenas), heute unter Clinton die NATO-Europäer vor Serbien (Anlaß innerstaatliche ethnische Konflikte).

 

Analogie hin, Analogie her. Noch nie habe ich Heiner Müller so elementar nachempfinden können wie diesmal. Seine Tragödie, die er als Assoziationen provozierendes Modell verstanden wissen wollte, erzählt von demagogischen Fähigkeiten des Oberkommandierenden Odysseus. Vielleicht bin ich zu sehr betroffen vom NATO-Krieg in Europa, so daß ich das hinterhältige Wirken dieses Herrn besonders beobachtete. Hermann Beyer als Odysseus trug in meinen Augen den schwarzen, hochgeschlossenen Leder- wie einen Kaschmir-Mantel. Ich bescheinige Stephan Suschkes körpersprachlich konzentrierter Inszenierung, daß sie in keiner Weise plump aktualisiert. Aber das Modell, die Wucht der Vorgänge - sehr plastisch, sehr differenziert ins Bild gesetzt in einer klinisch weiß ausgeschlagenen Arena der Studiobühne - sprechen für sich.

 

Odysseus, der uneinsichtige, starrsinnige Betonkopf, schickt den jungen Neoptolemos (Götz Schulte als seelisch Zerrissener) ins Kriegsabenteuer. Er soll Philoktet (Axel Werner als geistig Ungebrochener) unter allen Umständen von der Insel zurückholen, auf die Odysseus den Helden verbannt hatte. Heutzutage hätte man die Angelegenheit selbstverständlich mit »Rettungs«-Helikoptern erledigt.

 

Der sagenhafte Fall bei Homer war der, daß Philoktet, der treffliche Bogenschütze, auf dem Kriegszug gegen Troja von einer Schlange in den Fuß gebissen worden war. Und wegen der eiternden Wunde mit gräßlichem Gestank hatten ihn die Griechen auf Lemnos ausgesetzt. Weil Philoktet aber eine Wunderwaffe besaß, nämlich Bogen und Pfeile des Herakles, wollte Odysseus, als das selbstbewußte Troja den Belagerern trotzte, den Krieger zurückholen und beauftragte den arglosen Neoptolemos. Dem dämmert allerdings, zu welch schändlicher Tat er mißbraucht werden soll. Und dennoch, obwohl er, skeptisch geworden, mehrmals mit Odysseus im Clinch liegt, nimmt er letztlich den Heuchler in Schutz, sticht den sich verweigernden Philoktet hinterrücks nieder.

 

Der Gipfel der Infamie: Odysseus - Müller wünschte das als Farce gespielt - weiß selbst Philoktets Tod für den Fortgang der Aggression zu nutzen. Ausweglosigkeit. Keine Hoffnung...

 

Mit dieser unerwartet hochpolitischen Inszenierung endet die von Höhen und Tiefen geprägte Arbeit des Berliner Ensembles seit der Wende. Stephan Suschke, nach Heiner Müllers Tod künstlerischer Leiter, hat sich zu einem führenden Regisseur der Hauptstadt profiliert. Er braucht den eloquenten Schauspieler, seine sensible Handschrift ist unspektakulär, klar, sachlich und stets werknah, sie wird fehlen im Theater am Schiff­bauerdamm.

 

„Neues Deutschland“ vom 6.April 1999