„Pericles“ von Shakespeare am
Berliner Ensemble, Regie Peter Palitzsch
Kein Erbarmen mit den Geduldigen
Als Bertolt Brecht 1954 mit seinem
schon berühmten Berliner Ensemble ins Theater am Schiffbauerdamm zog, verfremdete
er den schwarzen Adler über der linken Bühnenloge mit zwei roten Pinselstrichen.
Ansonsten respektierte er das barocke Interieur des traditionsreichen Hauses,
nutzte es als bizarren Kontrast zur künstlerischen Vitalität seiner
dialektischen Spiele.
Auf andere Weise selbstbewußt scheint 1993 Peter Palitzsch, einer der fünf neuen Regie-Chefs am Schiffbauerdamm. Für seine Produktion der Shakespeare-Romanze „Pericles" räumte er das Gestühl aus dem Parkett. Mit einem Handstreich fegte er die Honoratioren, die gut zahlenden Damen und Herren, aus dem Theater. Er stellte ihnen auch nicht, wie an sich üblich in Shakespeares Zeit, teure Sessel auf die Bühne.
Palitzsch als Revoluzzer? Formales
Muskelspiel zum Auftakt neuerlicher Tätigkeit an diesem Haus? Keine Sorge. Das
Geld ist nicht vergrault. „Die schnellen grauen Herren von den Kartellen"
(Brecht) lassen grüßen, wünschen viel Erfolg für den neuen Anfang des Berliner
Ensembles: Telekom. Die Grundkreditbank. Mercedes Benz. IBM. Swissair. Und die
rote Markierung Brechts ist noch nicht getilgt.
Reden wir nicht von der verordneten Strapaze
des Zuschauens. Neugierige werden sie auf sich nehmen. Doch ein Gewinn für die
Kommunikation ist die Stuhlleere nicht. Die Handlung, schon bei Shakespeare ein
lockeres Spiel des Zufalls, wurde von Palitzsch noch weiter zergliedert. Also
nicht etwa der Versuch, als szenische Dominante eine in den Zuschauerraum ragende
Spielfläche wie beim Swan- oder beim Globe-Theatre zu etablieren. Ein Steg
führt von der Bühne zu einer Treppe mit Podest, die nach der Pause, zur Seite
geschoben, überflüssig herumsteht (Bühnenbild Karl Kneidl). Dislozierte
Spielorte.
Konzentration dennoch, von einem
präzis spielenden Ensemble. Der Regisseur, ziselierender Figuren-Schöpfer, erzählt
das Märchen Shakespeares wie ein mittelalterliches Mysterienspiel, fein säuberlich
Station für Station, sehr ernsthaft, ohne jede ironische Draufsicht. Akteure bringen
sie gelegentlich ein. Jürgen Watzke als König Simonides, Hans-Peter Reinecke
als berlinernder Ganove Bolz im Bordell.
Was erschließt sich? Schwerlich, wie
Übersetzer Holger Teschke meint, zwei auseinanderdriftende Zeitalter mit
Abschied von den Horizonten der Renaissance-Utopien. Auch kein Dokument des
Opportunismus. Aber immerhin profan das bittere Schicksal eines edlen Mannes: Pericles, Prinz von Tyrus, ist scharf auf die Tochter des Königs
Antiochus (Ekkehard Schall). Aber er mag das Rätsel nicht lösen, das ihm die
nackte Schöne aufgibt. Er ahnt zwar, was alle wissen, daß nämlich Vater und
Tochter im Inzest leben, doch er spricht es nicht aus. Lieber flieht er. Man
vermutete das schon. Hermann Beyers Pericles ist ein vorsichtiger Skeptiker.
Optimistisch der Blick in die Zukunft, tiefgekrümmt die Mundwinkel der Gegenwart.
Flucht denn also vor dem Staatsschutz des Antiochus. Schiffbruch. Glückliche Rettung
an fremdem Ufer.
Es ist Pentapolis, das Land des
protzig-gemäßigten Königs Simonides, der Pericles flugs mit seiner pummeligen
Tochter Thaisa (Petra Cammin) verehelicht, obwohl der Fremdling in grauen
Socken, bunter Turnhose und rostigem Harnisch wie ein gebeutelter Don Quichotte
aussieht. Die hurtige Ehe führt zu Tochter Marina (Anette Daugarth) und neuerlich
aufs Meer, das tosende, mordende, auch rettende. Thaisa überlebt in einer
Kiste, Marina im Bordell und Pericles in der Verzweiflung. Weil er nichts weiß
von seinen Lieben.
Lösende Harmonie bei Shakespeare für
den Geduldigen. Pericles, der Held, der das Unausweichliche des Schicksals
schließlich akzeptiert, erfährt Zuspruch und Hoffnung in Dianas Tempel zu
Ephesus: Thaisa, sein Weib, war nur scheintot. Und Marina, seine Tochter,
heiratet den Regenten von Mytelene, der sie gerettet hatte.
Derlei tröstliche Romanzen-Verklärung
liefert Palitzsch nicht. Im streng bewachten Tempel der Diana ist die Wiederbegegnung
der Getrennten nur ein Traum von Toten. Kein Segen für den Erduldenden. Nicht
einmal Hoffnung. Apathie. Melancholisch nett kommentiert von Gower, dem „Chor"
(Volker Spengler).
Neues
Deutschland, 12. Januar 1993