„Pension Schöller: die Schlacht“ – Castorf-Spektakel an der Berliner Volksbühne

 

 

 

 

Knallerei auf den Zinnen der guten Stube

 

Ein leibhaftiger Hubschrauber fliegt ein, Ami oder Russe, und der deutsche „Weltenbummler" Bernhardy ballert mit der Flak-Kanone, mit der vorher Ida und Franziska, die Nichten Onkel Philipps, in aller Unschuld gespielt hatten. Dies die Hauptattraktion des neuesten Castorf-Spektakels an der Berliner Volksbühne.

Die Knallerei auf den Zinnen der guten Stube (Bühnenbild Bert Neumann) lohnt möglicherweise noch nicht den Besuch der Produktion „Pension Schöller: die Schlacht" nach Texten von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby sowie Heiner Müller. Womit der Hausherr den 40. Jahrestag der Wiedereröffnung der Volksbühne ziert, ist allerdings mehr als ein üblicher Theaterabend. Seine kühne Mixtur aus Berliner Posse (Laufs/Jacoby) und Polit-Parabel (Müller) ist, sagen wir mal, ein Jubiläums-Genre, vielleicht am besten „Volksgroteske" genannt.

Castorf hat schon immer gern triviale szenische Metaphern erfunden, hat mit Kartoffelsalat werfen und mit Wasser planschen lassen. Jedenfalls hat er viele im Volke beliebte Beschäftigungen für die Bühne erschlossen. Da war oft leerer Aktionismus im Spiel, gelegentlich schien es unentschlüsselbare Selbstbefriedigung. Auch diesmal bleibt manches diffus. Wie etwa der, vermute ich, Versuch der szenischen Rehabilitation des Hakenkreuzes als ein überkommenes, von den Nazis mißbrauchtes Symbol. Da rennt Eugen Rümpel, der Kellner der Pension, noch eben der Antifaschist aus Müllers „Nacht der langen Messer", mit einem roten Hakenkreuz auf dem Bauch herum, wahrscheinlich naiv als Symbol seiner Manneskraft gemalt, während Major a. D. Gröber als SA-Mann die sattsam bekannte Armbinde trägt.

Aber unterm Hemd hat dieser Gröber einen unschuldig blanken Bauch, wie übrigens auch andere Figuren, was sie fast minutenlang zeigen. Widersprüche. Als theatrale Kürzel auf die Bühne gebracht, machen sie eine Inszenierung zwar sozusagen pluralistisch, überfordern aber eigentlich das Theater.

Ansonsten ist Castorf wesentlich. Müllers Texte aus „Die Schlacht" liefern ihm den politischen Hintergrund für Philipp Klapproths Reise nach Berlin, wo der partout eine Klapsmühle kennen lernen möchte und durch seines Neffen Alfred Vermittlung die „Pension Schöller" besucht. Was sich dort begibt, wird in Castorfs Aufbereitung zum grotesken Sinnbild für die Gesellschaft. Wild gewordene Kleinbürger in diversen Ausführungen.

Etwa Eugen Rümpel (Hendrik Arnst), der zwar statt „l" nur „n" sprechen kann („Wannenstein" statt „Wallenstein"), den aber eine unbezähmbare Liebe zur Bühne drängt. Weshalb er ganz ungeniert Heinrich Georges armselige Auslassungen „Wenn der Führer ins Theater kommt" aus dem Berliner Lokalanzeiger vom 20. April 1939 als eigenes Erleben zum besten gibt. Oder Major a. D. Gröber (Kurt Naumann), der SA-Mann, der unbeachtet Nazi-Witze erzählt und dem Weltenbummler eine Flasche auf den Kopf drischt. Oder Ernst Kissling (Jürg Kienberger), der Musiker, der „beliebte" Gesänge wie „Davon geht die Welt nicht unter..." musikalisch zu begleiten weiß.

Famos Henry Hübchen als Philipp Klapproth. Habitus und Slapstick-Gelenkigkeit wie der unschuldige, naive Chaplin. Hektische, abgehackte Diktion wie Heinz Schuberts Ekel Alfred. Dieser Herr aus deutscher Provinz hat in der Pension, wohin er mit Schwester (Walfriede Schmitt) und Nichten kommt, viele Abenteuer zu bestehen. Zum Beispiel seine aufreibende Begegnung mit der egozentrischen, überkandidelten „Gartenlaube"-Schriftstellerin Josephine Krüger (Sophie Rois vortrefflich), bei der er seine Hose verliert. Oder die Herausforderung durch Weltenbummler Bernhardy (Herbert Fritsch in einer Mischung von Gründgens- und No-Spieler-Outfit), der Männer-Strip vor ihm macht und ihn nicht mit seiner Nacktheit, doch mit zwei Riesenschlangen betört. So daß Onkel Philipp, der sich zunächst gschamig wegsteckte, nun seinerseits mit seinem Hosenträger eine Kür vorführt. Hübchen ist auch mimisch von Extraklasse. Selbst der verworrensten Situation weiß er mit komischem Ausdruck Bildkraft zu geben.

Neffe Alfred (Torsten Ranft) stürmt herein mit offenem Hosenstall seiner Krachledernen, ist versessen auf Friederike (Astrid Meyerfeldt), eine Verwandte des Hausherrn, und geht mit einem mächtigen Rohr zu Werke. Das Mädel ist arg kurzsichtig, was nicht nur ein Nachteil sein muß.

Diabolische Quintessenz der „Volksgroteske": Zwar haben die Leut' leidige Probleme mit Faschismus und Krieg, doch eigentlich und überhaupt im Leben geht es ihnen ums Bumsen. Ida (Kathrin Angerer) und Franziska (Olivia Grigolli) möchten so gern unter die Haube kommen. Auch Amalia (Heide Kipp), Schöllers Schwägerin, hat so ihre Bedürfnisse. Und da Mann bekanntlich Mann ist, gibt's auf unschuldig weißem Laken eine heiße Begegnung in Gruppe. Onkel Philipp besorgt es bei der Gelegenheit auch mal nebenher seiner Nichte Ida. Das ist dann wahrscheinlich die einzige der tollen Geschichten aus Berlin, die er in friedlichen Zeiten bei einem Glase Bier in gemütlicher Bürgerrunde verschweigen wird.

 

 

Neues Deutschland, 25. April 1994