„Herr Paul“ von Tankred Dorst in den
Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Regie Michael Gruner
Dieser Typ ist einfach nicht totzukriegen
Bewegt verließen die Zuschauer die Kammerspiele
des Deutschen Theaters in Berlin. Nach Ovationen für hervorragende Darsteller
und für Michael Gruner, den sich
zurückhaltenden, dem Werk dienenden Regisseur. Der Beifall galt
insbesondere der märchenhaften, kommunikationsfreudigen und überraschend
aktuellen Komödie „Herr Paul" von Tankred Dorst (Mitarbeit Ursula Ehler),
die im Februar dieses Jahres am Deutschen Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt
worden war. Eine echte Bereicherung des Spielplanes dort wie hier.
Welch deutsches Theaterstück neueren Datums
geht so phantasievoll mit Wirklichkeit um, grundiert sozial, greift tief ins
Menschenleben, polt es tragikomisch um und entläßt den Besucher trotz auch
recht makabrer Vorgänge dennoch schmunzelnd? Der 1925 bei Sonneberg in
Thüringen geborene Dramatiker Dorst ergötzt seine Zuschauer, indem er auf der
Bühne - der mecklenburgische Spökenkieker Ernst Barlach könnte Pate gestanden
haben - irrational geschehen läßt, was real nicht möglich ist. Ein
sympathischer Mensch, der noch eben viehisch umgebracht wurde, und zwar aus
fieser, außer Kontrolle geratender Besitzgier, aufersteht und sitzt nicht
gerade putzmunter, aber eben lebend als Problem wieder im Raum.
Nämlich Herr Paul. Dieser Typ - offeriert Dorst - ist einfach nicht totzukriegen. Und da in uns allen etwas „Paulartiges" steckt, nehmen wir lebhaft Anteil an dessen Schicksal. Er, durchaus gebildet, mit philosophischem Tiefblick für's irdische Dasein, verläßt sein verstaubtes Domizil (Bühnenbild Peter Schulz) so gut wie überhaupt nicht mehr. Schon eine Ewigkeit campiert er in ehemaligen Fabrikräumen, die einst seinem Großvater gehörten, die dem aber abgeluchst worden waren, und tagträumt ein zufriedenes Leben, wie es ihm draußen im rauhen Alltag nie beschieden sein würde. Seine Schwester Luise, eine liebenswert schrullige Alte, betreut ihn.
Nun kommt da ein junger Mann, Helm, der Erbe
der Fabrik, und will ihn ins Vorderhaus umquartieren, woraus nichts wird. Paul
widersetzt sich. Einfach mit freundlicher Sturheit, mit gewitzten
Ablenkungsmanövern, mit dickfelliger Weisheit des Alters. Ich empfehle, sich
anzusehen, mit welch sinnlichem Vergnügen Kurt Böwe diesen Paul ganz ohne
Drückerchen umwerfend komisch kreiert. Das Urbild aus Wuppertal, das Dorst
verewigte, kann kaum urwüchsiger gewesen sein. Ein gemütvoller Schalk, rappelköpfig auch, aber friedfertig,
rekelt sich auf seinem Sofa, schlurft zu den Nudeln im Topf auf der Kochplatte
auf dem Klavier, futtert das Zeug, meditiert nebenher sonnigen Gemüts über das
Leben („Wer lebt, stört!") und läßt den Erben immer wieder abblitzen.
Zwar gibt er schließlich seine Unterschrift, aber gleich danach frißt er das
Papier einfach auf.
Fast verständlich, daß Helm durchdreht. Im Nu ist er ein
gnadenloser Mörder. Den jungen Mann, der bislang nie gearbeitet, nur studiert
hat, gibt Daniel Morgenroth souverän als einen eigentlich ganz netten
Zeitgenossen. Überraschend hat der geerbt und will nun, wie es sich halt
gehört, aus der Immobilie noch mehr herausholen. Seine Gefühlswelt ist gemäß,
nämlich karg. Freundin Lilo, die auch aufkreuzt, behandelt er leger. Sie ist
Krankenschwester, sieht viel Elend, muß es wegstecken, hat sich aber eine
empfindsame Seele bewahrt. Petra Hartung macht das sehr glaubhaft. Famos, wie
ihre Lilo gelenkig und schlampig herumkurvt, sich lümmelt, sich aufregt, sich
abregt, sich engagiert, sich anpaßt. Eine Lebenskünstlerin der jungen
Generation.
Da ist noch Willy Schwarzbeck, der Geldmann, dessen
Millionen Helm für seine Pläne braucht, von Udo Kroschwald als trocken-sachlicher
Praktiker trefflich hingestellt. Und Anita, die kindhafte Idiotin aus dem
Vorderhaus, die Paul ins Herz geschlossen hat, von Stefanie Stappenbeck
einfühlsam vorgeführt. Unnachahmbar: Christine Schorn als Pauls Schwester
Luise. Wie sie sich ständig mal vergnatzt hochmütig, mal wehleidig alteriert,
wie sie über Unerwartetes naiv staunt, wie sie von der Oper schwärmt, wie sie
ihren Bruder verehrt - einfach gottvoll.
Michael Gruners freundliche, rührend menschliche
Inszenierung ist mit ihrer unaufdringlichen Selbstverständlichkeit, ihrer
lockeren Spiellaune ganz besonders kostbar. Siehe da, Theater kann noch zu
Herzen gehen!
Neues
Deutschland, 29. März 1994