„Ozeanflug“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Robert Wilson

 

 

 

 

Fluch des Fortschritts

 

„Ich bin der Nebel«, sagt Bernhard Minetti, der greise Nestor der deutschen Schauspielkunst, der am Vorabend der Premiere seinen 93. Geburtstag gefeiert hatte. Plötzlich dominieren nicht äußerliche, mechanische Bewegungsabläufe auf der Bühne. Menschliche Töne füllen den Raum. Eine warme Stimme spricht innig und getragen das Wort des Dichters Bertolt Brecht, zu dessen 100. Geburtstag dieser »Ozeanflug« in der Regie von Robert Wilson am Berliner Ensemble veranstaltet wird.

Unnachahmlich, wie Minetti das vorbringt, dieses »Ich bin der Nebel!« Verhalten drohend, zugleich verschmitzt, die Vokale liebkosend und lange klingen lassend, gleichsam alle Weiten des Meeres durchstreifend. Nur mit seiner Sprache baut der Schauspieler eine Beziehung auf zwischen dem Nebel, dem tollkühnen Flieger Lindbergh in den Lüften und uns, den Zuschauern. Der Nebel als selbstbewußte Naturgewalt, welcher seit Tausenden von Jahren über dem Ozean kein Mensch begegnet ist, weswegen sie sich verständlicherweise wundert. Sogar so etwas wie Respekt hören wir heraus, den die allmächtige Natur gegenüber dem Luftpionier hegt. So daß wir schließlich ein wenig um ihn bangen.

Regisseur Robert Wilson indessen tut sich schwer mit seinem Versuch, drei unterschiedliche, zwar literarische, aber undramatische Texte theatral zu beleben. Der Schöpfer des »Theaters der Langsamkeit« aus den USA, durchaus gut für einen Hit wie »Black Rider« 1991 am Thalia Theater Hamburg oder für einen Flop wie »Die Krankheit Tod« im gleichen Jahr an der Berliner Schaubühne, verband Brechts Radiolehrstück »Der Ozeanflug« (1928/29) und Heiner Müllers Text »Landschaft mit Argonauten« (1982) mit Dostojewskis Erzählung »Aufzeichnungen aus einem toten Winkel« (1864). Seine Idee: Der Ozeanflug damals war noch eine tapfere Tat für menschlichen Fortschritt; dann freilich wurde beim Flugzeug, benutzt als Bomber zur Vernichtung von Leben, die Kehrseite des Menschen sichtbar, nämlich dessen unausrottbarer blutrünstiger Drang zu zerstören; beschworen bereits von Dostojewski, der enttäuscht empfahl, sich ins Nichtstun zurückzuziehen.

Eine durchaus logische, eine aktuelle Kombination. Aus welcher sich folgerichtig nur ein elegisch-melancholischer Abgesang auf den Menschen ableiten läßt, wofür Wilson, der vorgibt, nicht zu interpretieren, durchaus der rechte Mann ist. Er erfand mehr oder weniger schlüssige Symbole, Bilder, bestehend vorwiegend aus still, intensiv und ziemlich mysteriös auf der Bühne hin und her rochierenden Figuranten. Das Wort hat unterschiedliche Chancen. Bei Minetti bekommt es lebendige Sinnlichkeit, auch bei Stefan Kurt (vom Thalia Theater Hamburg) als Lindbergh wird es plastisch. Ansonsten bleibt es Illustration. Eine sich ästhetisch gebärdende pantomimische Zelebration stellt sich her, bei welcher man schon für den kleinsten wirklich theatralen Vorgang dankbar ist. Lindbergh strampelt tapfer oder müde in den Lüften, am Tisch auf einem Einrad sitzend. Bizarre Leichenschwestern streiten um einen Staubsauger und grimassieren Bösartigkeit. Der Beamte resigniert links an der Rampe, während unverdrossener junger Nachwuchs mit Köfferchen aus einem »toten Winkel« ins Geschäft eilt.

Viel Einfalt. Die Späßchen an einer als Titelblatt fungierenden Tafel läppisch provinziell. Groß der literarische Anspruch, bieder die szenischen Lösungen.

 

 

 

Neues Deutschland, 3. Februar 1998