„Orestes“ von Euripides an der Berliner Schaubühne, Regie Andrea Breth

 

 

 

Apollon triumphiert martialisch

 

 

Geiselnahme. Vor rund 2400 Jahren. In Euripides' Tragödie „Orestes". Daß derlei verbrecherische Praxis so uralt ist, war einem nicht unbedingt bewußt. An die makabere Tatsache erinnert Andrea Breth jetzt an der Berliner Schaubühne mit einer fulminanten Inszenierung. Sie bietet nicht hehres Bildungstheater, sondern drastische Schauspielkunst. Sie läßt ohne Masken spielen und zeigt im Sinne des Dichters Menschen, nicht wie sie sein sollen, sondern wie sie sind. Da der Zuschauer des 20. Jahrhunderts Daten der griechischen Mythologie gemeinhin nicht so ohne weiteres parat hat, rezipiert er die Vorgänge direkt, trotz archaischer Spielstätte eher als zeitgenössisch, denn als antik.

Bühnenbildnerin Susanne Raschig nutzte die besondere Möglichkeit an der Schaubühne, jeweils für ein Stück den gemäßen Spielraum zu bauen. Sie verwandelte den Saal C in ein kleines griechisches Theater mit Orchestra und fünf Reihen Sitzstufen. Die Regisseurin nutzte den Spielraum. Am Rande der Orchestra, verteilt in der ersten Reihe, sitzt der Chor, fünf Frauen, gebeugt an kleinen Tischen. Bürolampen spenden Licht. Stille Geschäftigkeit. Archivarinnen der Geschichte. Sie nehmen kommentierend teil am Geschehen, treten dazwischen, registrieren gewissenhaft, greifen aber nicht ein. Sie können das Verhängnis ohnehin nicht abwenden. Am Ende sitzen sie wieder an ihren Tischen. Schweigende Vertreter einer unschuldigen Behörde.

Wessen wurden sie Zeuge? Des Versuchs des Muttermörders Orestes (Ulrich Matthes), sich der Strafe durch Kidnapping zu entziehen. Zunächst berichtet Elektra (Andrea Clausen), seine Schwester, von der Krankheit, die ihn befallen hat. Rachegeister verfolgen ihn. Bewegungslos liegt er auf einer Bahre. Helena (Corinna Kirchhoff), strahlende Schönheit, tritt auf, bezeugt Reue, Furcht vor dem Volk. Psychologisch einfühlsames Spiel und tragisch-weihevolle Diktion mischen und ergänzen sich. Keine große, erhabene Gebärde, sondern differenzierte Gestik. Deftige solistische Auftritte.

Menelaos (Thomas Thieme), Gatte Helenas, der mit verrohtem Ranger-Heer zurückkehrende Feldherr, zeigt sich als diplomatisch taktierend. Tyndareos (Michael König), Vater Helenas, ein Greis schon, empört sich mannhaft. Der Bote (Hans Diehl), ein Bauer mit phänomenaler Nase, leicht beschwipst, steigert sich leidenschaftlich in seinem Bericht. Der Sklave Helenas (Rainer Philippi), tödlich getroffen, mit aus dem Bauch quellendem Gedärm, erzählt zitternd, wie er und die übrige Dienerschaft Helena gegen den Zugriff des Orestes zu schützen suchten.

Der Muttermörder, der vom Volk nicht gesteinigt werden möchte, nahm auf Rat des demagogischen Pylades (Hans-Werner Meyer) Helenas und Menelaos' Tochter Hermione als Geisel. Doch da ist rettende Obrigkeit. Wahrhaft wunderbar die Zeiten, als noch - wenigstens auf dem Theater - ein Gott aus der Maschine eingriff, die Verbrecher zur Strecke brachte und Frieden stiftete. Der nackte Apollon, bei Andrea Breth ein Farbiger (Nicholas Monu), schwebt auf einer Schaukel herbei und triumphiert martialisch. Urtümlicher Mythos und urwüchsige schwarzafrikanische Menschenkraft lassen erschauern. Pures, elementares Theater! Aus gutem Grund viel Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 18. April 1995