„Oleanna“ von David Mamet in den Kammerspielend des Deutschen Theaters
Berlin, Regie Johanna Schall
Ist’s sexuelle Belästigung?
Ein Mann zwinkert einer Frau zu. Wodurch erkennt wer, daß das einfach Lebensfreude ist, ein Signal, Hoffnung auf nette Kommunikation? Oder ist's schon sexuelle Belästigung? In New York lebt einer, der kennt sich aus. Meint er. Jedenfalls hat der 1947 in Chicago geborene David Mamet „Oleanna" getüftelt, ein Stück über die Schwierigkeiten von Mann und Weib, vernünftig miteinander umzugehen. Also Mensch zu sein, ganz Mensch! Und doch eigentlich ein Neutrum? Das Problem zu lösen, heißt, scheint mir, das Leben abzuschaffen.
Aber natürlich lohnt der Disput. An den Kammerspielen des
Deutschen Theaters in Berlin stellt Johanna Schall (Regie) das Stück zur
Diskussion. Es behandelt das Phänomen am Konflikt eines Hochschullehrers mit
einer seiner Studentinnen.
Im schmucklosen Arbeitsraum einer Hochschule, von Ausstatter Philipp
Stölzl wie ein Präsentierteller in den Zuschauerraum gebaut, stehen sich
Dieter Mann als Dozent John und Ulrike Krumbiegel als Studentin Carol gegenüber.
Er hat eigentlich einen dringenden privaten Termin, aber er gibt sich alle
erdenkliche Mühe, ihr etwas von seinem Wissen zu vermitteln. Sie jedoch
versteht überhaupt nichts. In seine Gedankengebäude vermag sie einfach nicht einzutreten.
Vielleicht sollte die Hübsche das Studieren besser sein lassen?
Jäh die Wendung. Glaubt man anfangs, die körperlich
muntere Carol sei ein rechtes
Landei
und in ihrer abgöttischen Naivität geradezu besessen bemüht, Johns Buch und
überhaupt all seine Erkenntnisse zu kapieren (und die Regie läßt einen in
diesem Glauben!), entpuppt sich die Studentin nach der Pause als ein
raffiniertes kleines Ungeheuer. Sie deutet Johns gutgemeinte Konsultation um
in einen Versuch sexueller Belästigung. Mit einer Eingabe bei der
Berufungskommission vermasselt sie dem Dozenten seine ordentliche Professur,
die er schon fest in der Tasche glaubte. Einigermaßen überraschend spricht
Carol auf einmal im Namen ihrer Studentengruppe und behauptet, John gehe es
nur um Macht und Wohlstand, gar nicht um die reine Lehre.
Wohl dem Professor, der nicht in die Fänge solch egozentrischer junger
Frau gerät, die eigene Schwierigkeiten im Umgang mit Mensch und Wissenschaft
nicht zu kompensieren vermag und in aufkommender Aggression zu Verleumdungen
greift. Allerdings: Keine vorschnellen Urteile bitte. Die Psychogramme beider Gestalten
sind sehr widersprüchlich gefaßt. John scheint ein lebenspraktischer Wissenschaftler
zu sein. „Bildung ist Schikane" ist eine seiner umstrittenen Maximen.
Andererseits hat er offenbar eine Art, seine Meinung als allein richtige
durchzusetzen, die zum Widerstand herausfordert. Carol, noch nicht integriert
in die mafiose Gilde der Insider, hält dagegen.
Wer letztlich Sieger sein wird, bleibt offen. Das Stück - eine theatrale
Fallstudie für Demokratie an einer Hochschule. Johanna Schall hat ihre Inszenierung
so objektiviert angelegt, daß die individuelle Zuschauer-Auswertung abend-, ja
nächtefüllend sein kann. Dank auch der vorzüglichen, äußerst differenzierten schauspielerischen
Leistungen.
Neues Deutschland, 27. April 1994