„König Oidipus“ von Sophokles am Deutschen Theater Berlin, Regie
Alexander Lang
Uralter Kriminalfall brillant serviert
Der uralte Kriminalfall »König Oidipus« von Sophokles in einer brillanten
Inszenierung Alexander Längs am Deutschen Theater in Berlin. Der feinsinnige,
humorige Regisseur hat sich, ich bemerke das gern, auf seine Fähigkeit
besonnen, menschliche Beziehungen einer dramatischen Vorlage genau zu
verlebendigen. Alles Spiel entfaltet er, der Fabel dienlich, aus konkreter Gestik
und Sprache, nie greift er auf äußerliches, leeres Gehabe zurück. Und doch
bietet er immer Theater, alltäglich und erhaben zugleich, selbst im mythologischen
Fall authentisch Leben spiegelnd.
So ist von großer, hinreißender Schauspielkunst zu berichten. Lang
beginnt die Tragödie des Griechen (496-406 v.u.Z.) als ein unbeschwertes Kammerspiel,
eingeleitet zwar mit bedrohlichen Klängen, Unheil verkündend, doch die Suche
König Oidipus' nach dem Mörder des Laios zunächst moderat servierend. Langsam
dann bricht das Verhängnis herein: Der König der Thebaner unrettbar verstrickt
in das Schicksal, das ihm die Götter auferlegt haben. Und obwohl die Überführung
des Mörders kein Zuckerlecken ist, die Abgründe tief sind, die Konflikte dramatisch,
wird auf der Bühne nicht wild und unverständlich gebrüllt, sondern stets
angemessen reagiert.
Den Oidipus gibt Jörg Gudzuhn. Der Schauspieler ist überragend. Ich habe
ihn seit langem nicht so gelöst, so fern jeder Manier, so wunderbar sensibel,
so überaus differenziert gesehen. Es ist ein Genuß,
ihm zuzuschauen und zu erleben, wie er die Figur ganz und gar aus der
menschlichen Substanz kreiert. Gudzuhns Oidipus ist zwar
ein stattlicher Mann, aber im Grunde ein kleiner, armer Provinzpolitiker.
Bühnenbildner Volker Pfüller hat ihm als Thron nur einen schäbigen
Gartenlokal-Stuhl hingestellt, ansonsten den Königspalast mit Versatzstücken
angedeutet, als weitläufig zwar, aber wohl verfallend. Das thebanische
Stadtoberhaupt - und Gudzuhn bringt da gute Beobachtungen ein - regiert mit dem
Selbstbewußtsein eines Auserwählten, versteckt kokett im Dünkel, etwas ölig mit
dem Argument. Zwar umgarnt er seine Bürger clever, mischt sich leger sogar
mitten unter sie, doch sein eloquentes, geschmeidig süffisantes Mienenspiel
verrät immer wieder, wie wenig er letztlich auf ihr Urteil gibt. Immer gebieterischer
befiehlt er dem Chor.
Dieser Chor der thebanischen Stadtältesten
besteht bei Lang zwar nicht aus fünfzehn, sondern nur aus drei Herren, doch das
sind muntere Bürgerlein (Thomas Bading, Jürgen Huth und Kay Schulze), die ihren
Part voll bewältigen. Ob sie nun individuell die jeweilige Lage bei der
Mörder-Suche erörtern oder mal flott ein kleines gemeinsames Tänzchen hinlegen
- nie zelebrale Steifheit, stets lebendiges Fußvolk, das hier mal eine Lippe
riskiert, dort sich tunlichst lieber wegduckt.
Denn was da von ihrem König peu à peu an den
Tag kommt, daß er nämlich seinen Vater erschlagen hat und mit seiner Mutter im
Ehebett liegt, kommt selbst in antiken Zeiten nicht alle Tage vor. Und Gudzuhn
versteht, des Königs eskalierende Konfrontation mit der Wahrheit sublim
vorzuführen. Den blinden, überraschend jungen, offenbar gut im Geschäft befindlichen
Seherfürsten Teiresias (Guntram Brattia) fertigt Oidipus überlegen ab. Seinen
Schwager Kreon, von Dietrich Körner souverän als ein gewiefter Pragmatiker
gezeichnet, verdächtigt er voreilig. Prompt muß er mit ihm rechten. Ein
komischer Machtkampf bricht los, bei dem die Kontrahenten schließlich besitzgierig
nach den thebanischen Bürgern greifen. Iokaste muß schlichten, was Christine
Schorn als selbstsichere Gattin des Königs mit Liebreiz und Hingabe besorgt.
Die Nachricht des Boten aus Korinth, den Otto Mellies als so eifrigen wie
vorsichtigen alten Haudegen zeigt, macht Ahnungen zu Gewißheiten. Der uralte
Hirt (Horst Hiemer), der über die Schrecknisse dieses Lebens nur noch hämisch
kichern kann, räumt alle Zweifel aus. Oidipus ist überführt. Das Verhängnis
unermeßlich. Auch hier operiert der Regisseur angemessen, sein realistisches
Spiel beibehaltend. Kein rinnendes Blut, Oidipus' Augen erloschen (Maske Wolfgang
Utzt).
Unauffällig im Verlaufe des Abends, ohne
Klage, einfach so, fast nebenbei, fragt Alexander Lang: Wissen? Was heißt das?
Gewißheit? Etwas diabolisch, eher verschmitzt jedoch, gibt er dem blinden Seher
das letzte Wort...
Neues
Deutschland, 10. Juni 1996