„Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel an der Berliner Volksbühne, Regie
Frank Castorf
Anstrengende Eulenspiegelei mit deutscher Sage
In der Nacht zum Freitag hatte es sich entschieden. Frank Castorfs
neueste szenische Produktion, „Die Nibelungen", Friedrich Hebbels
deutsches Trauerspiel in drei Abteilungen, wurde zweigeteilt. „Der gehörnte
Siegfried" und „Siegfrieds Tod" über vier Stunden, „Kriemhilds
Rache" einen Tag später zweieinhalb Stunden. Nun, wie sich ergab, zwei
zeitaufwendige Theaterabende. Der Regisseur ist selbstkritiklos verliebt in
seine szenischen Einfalle, kostet sie aus, ja käst sie aus. Überhaupt zelebriert
er höchst angelegentlich.
Der Auftakt voll bissiger, entwaffnender Ironie. In König Günthers Burg,
in düsterer Halle (Bühnenbild Peter Schubert), wetzt Dankwart (Harald Warmbrunn)
stoisch zwei Schwerter. Die Recken haben Langeweile. Sie kreuzen ihre Klingen,
hobeln hin und her. Hagen Tronje allen voran. Günther tanzt und stöhnt lustvoll.
Spaßig anzusehen, ernst gemeint. Blutrünstig sind sie also, die Nibelungen und
lüstern sind sie obendrein. Mehr erfährt man dann später eigentlich auch nicht.
Sie bleiben läppische, hoffnungslos verblödete Stiesel. Vielleicht macht Mutter
Ute (Heide Kipp) eine Ausnahme.
Friedrich Hebbel (1813-1863) bekannte im Vorwort für sein Trauerspiel,
der Zweck sei gewesen, „den dramatischen Schatz des Nibelungen-Liedes für die
reale Bühne flüssig zu machen, nicht aber den poetisch-mythischen Gehalt des weitgesteckten
altnordischen Sagen-Kreises... zu ergründen, oder gar... irgendein modernes Lebens-Problem
zu illustrieren". In Verfolg seiner ethischen Motive geriet ihm gewollt
oder ungewollt die aufkommende nationalistische Glorifizierung „deutscher Tugenden"
wie Kraft und Treue und das daraus erwachsende falsche Heldentum ins Konzept.
Er war froh, daß 1861 in Weimar, zur Uraufführung, am Erfolg des Werkes „Das moderne
Virtuosentum mit seinen verblüffenden Taschenspielereien nicht den geringsten
Anteil" hatte.
Castorf, der Schöpfer des modernen Trivial-Theaters, setzt
selbstverständlich wie gehabt und mit wahrhaft unerschöpflicher Phantasie auf
die verblüffenden Gaukeleien sener Virtuosen. Er entzaubert Hebbels
pathetischen Text, filtert den poetischen Anspruch heraus, die heldische Glorie
ganz und gar, beläßt für Kenner aber Passagen und stellt sie groß aus. Und er
ergänzt. Winfried Wagner eröffnet als ein ein Requiem singender Kaplan den
zweiten Abend geradezu grandios. Doch solch bestechend realistisches Spiel bleibt
am Rande. Castorf hat nämlich Fritz Längs „Nibelungen"-Film studiert und
bringt den mit allerhand lapidaren oder intellektuellen Sätzen profanierten
Hebbel in pappkulissisch großen, irgendwie Theater romantisierenden, aber auch
in ernüchternd simplifizierenden Bildern. Und mit vielen tragödischen Gebärden.
Silvia Rieger als Kriemhild tut sich besonders hervor. Sie posiert wie Asta
Nielsen in ihren besten Stummfilmen und operiert dazu mit einem maniriertem
Sprech-Singsang. Am 2. Abend steigert sich diese Kriemhild zu einer Hexe, die ihre
Sätze herausdröhnt, als habe sie einen zarten Sprung in der Schüssel. Herbert Fritsch
als Hagen Tronje, die Gedanken meisterhaft, oft trocken-hämisch setzend, stakt und
grimassiert wie soeben Paul Lenis Film „Wachsfigurenkabinett" entstiegen.
Die Mixtur von übertriebener Stummfilm-Aktion und effektvoller Haupt-
und Staats-Aktion ergänzt, bricht, bereichert Castorf mit grotesken, aber
natural ausgespielten, freilich oft langstielig angelegten Szenen. Wenn König
Günther (Gerd Preusche), endlich Herr über Brunhild, mit ihr in intimer
Vertraulichkeit in blecherner Badewanne mit nackten Füßen Weintrauben stampft,
dann die Brühe aus der Wanne in eine Flasche gießt und mit Brunhild trinkt, ist
das in der Summe durchaus ein originelles theatrales Bonmot. Aber der Regisseur
scheint immer weniger Gespür für Timing und Sinnträchtigkeit solcher Szene zu
haben. Hat er Konzentrationsschwächen? Durchweg spinnt er den roten Faden der
Handlung nicht schlank und konsequent, sondern läßt ihn fallen, fügt mal
befremdliche, mal irgendwie beredte Intermezzi ein, scheint ihn gelegentlich
ganz und gar verloren zu haben, oder er verknotet ihn gewissermaßen, spielt
Kernszenen dick aus. Darunter leidet die Schlüssigkeit des Geschehens erheblich.
Wenn Siegfried auftritt, fällt der Held mehrfach über die Zipfel seines
überlangen Mantels. Welch Dussel, dieser Drachentöter! Dann scheint ihn ein epileptischer
Anfall zu peinigen. Seine Recken, hier Amazonen, gespielt von sieben anmutigen
Damen, machen es ihm nach. Sie heben sodann wie er den großen Stein des Anstoßes
spielend, während ihn die Nibelungen kaum hochzustemmen vermögen. Dies ist solche
Szene, wo der Gag schnell verbraucht ist, aber offenbar für die Amateure im Publikum
deftig ausgemärt wird. Von theatral schönem Format ist die Ermordung
Siegfrieds, der im übrigen zwiefach auftritt. Christian Schwaan und Birol Ünel
sterben an der Quelle artistisch perfekt und gründlich.
Sophie Rois hat entgegen aller Überlieferung die Brunhild als ein
kindisches, ja fast debiles Wesen zu geben, das in einem rollenden, vergitterten
kleinen Käfig hockt, von Frigga mit Blut gefüttert wird und ansonsten Country
singt. Sobald sie sich an Hebbels Text festhalten kann, ist sie denn doch ein
anspruchsvolles Frauenzimmer. Susanne Düllmann ist als blutausschüttende Frigga
bis zur allerletzten Szene beschäftigt.
Vorher werden die Burgunder von der Regie noch einmal bloßgestellt. Sie
erweisen sich, was modernes Leben betrifft, z. B. Fernsehen oder Haarföhnen,
als rechte Barbaren. Sie haben ein Bad genommen und stehen nackt herum, nur mit
Plaste-Einkaufstüten bekleidet. Zum Gaudi von Götelinde und Gudrun. Allerlei
Spielerei. Dann kommt Dankward mit blutigem Beil. Dann haut Hagen einen Hammer
in Kriemhilds Kinderwagen. Darauf antwortet König Etzel (Michael Bulatov), der
hier ein strahlend freundlicher Russe ist, friedvoll mit russischen
Volksweisen, exzellent vorgetragen von ihm und seiner Band. Schließlich haben
die Amazonen noch einen Auftritt, jetzt in Etzels Diensten. Mit einem Motorsägen-Tanz
beschwören sie kriegerisches Inferno, das sie hernach vielsprachig
international auswerten.
Hebbels „Nibelungen" bei Castorf - verfremdet zu anstrengend
langatmiger Eulenspiegelei. Respektvoller Beifall, aber auch grimmige Buh-Rufe.
Neues
Deutschland, 30. Mai 1995