„Nebbich“ von Carl Sternheim am Deutschen
Theater Berlin, Regie Niels-Peter Rudolph
Ein deutscher Spießer: nett und überfordert
Am Ende ist er nur ein netter Kerl: Der Handlungsreisende Fritz Tritz in Carl Sternheims Lustspiel „Nebbich", das Niels-Peter Rudolph am Deutschen Theater in Berlin einstudiert hat.
Den Fritz hat sich die männerhungrige
Kammersängerin Rita Marchetti im Jahre 1922 gelegentlich einer Autopanne in
kühnem Handstreich vom Elbufer weg nach Berlin geholt. Sie hat sich Hals über
Kopf in diesen Prototyp des deutschen Spießers verliebt, verzehrt ihn im Bett
und macht ihn, kraft ihres Einflusses, zum Chefredakteur, Filmdirektor und
Generalkonsul. Was der kleine Fritz natürlich nicht durchsteht. Als er nicht einmal
ein Kind zustande bringt, fällt es der Dame wie Schuppen von den Augen. Plötzlich
erkennt sie, welch einem „Nichts" (sprich: Nebbich) sie da aufgesessen
ist.
Dagmar Manzel, die die Rita vorführt,
hat eine große Szene, als sie das Erkennen ihrer Verblendung spielt. Zunächst sperrt
sie sich vor der Wahrheit, dann bricht es hohnvoll aus ihr heraus. Und sie
schont auch sich nicht, lacht hämisch über ihre eigene Narretei sklavischer
Verliebtheit. Da ist sie pur, da ist sie unmittelbar. Ansonsten serviert sie
eine bizarre Operndiva, die ihre expressiven Umgangsformen wie eine scharfe
Waffe gegen ihren Anhang und gegen jedermann einsetzt. Auch ihren Fritz packt
sie erbarmungslos. Die Momente echter Hingabe sind mir zu sparsam gesetzt.
Jedenfalls ist die Liebe dieser Rita mehr offenkundiger, fast manischer
Selbstbetrug, statt wirkliches Kraftholen bei einem vitalen Mann.
Diese Sicht geht natürlich aufs Konto der
Regie. Niels-Peter Rudolph, am Deutschen Theater gut eingeführt mit der sozialkritischen
Inszenierung des „Dieners zweier Herren" von Goldoni, neuerdings in Rede
als neuer Chef des Berliner Schiller-Theaters, hat im spielerischen Aufspüren Sternheimscher
Figurenkonstrukte das Konstruierte, das Überzeichnende betont. Die Gestalten
sind deutliche Typen, Repräsentanten ihrer Zeit: der distinguierte adlige Verehrer
von Schmettow (Dieter Mann), der vornehme Arzt Dr. Zinn (Reimar Joh. Baur), der
aalglatte Minister (Volkmar Kleinert), der windige Gesandte (Horst Hiemer), der
geschmeidige Zeitungsboß (Michael Schweighöfer), der verklemmte Filmmanager
(Michael Walke) und der Arbeiter Marlowski (Karl Kranzkowski).
Der Regisseur meidet aktualisierende Akzente,
bleibt in den 20er Jahren und demonstriert ungewollt auch die Patina, die
Sternheims Einfall mittlerweile angesetzt hat. Dieser ursprünglich entlarvende
kritische Blick hinter die Kulissen der guten deutschen bürgerlichen Gesellschaft,
von Bühnenbildnerin Lilot Hegi wörtlich genommen (man schaut von hinten in ein muffiges
Bühnenhaus), hat unter den Händen von Niels-Peter Rudolph eher etwas nostalgisch-wehmütiges,
denn zeitgenössischen Biß.
Der Streit von damals wird kaum neu
aufflammen, ob Sternheim empfiehlt, der Biertischstratege aus der Provinz solle
gefälligst dort bleiben, wo ihn der liebe Gott ins deutsche Vaterland setzte.
Immerhin macht es Spaß, zu beobachten, und Axel Wandtke als Fritz Tritz hilft
kräftig, wie sich ein Dutzend-Typ von der Deutschen Volkspartei unter die
Großen der Nation mischt. Aber was bringt's? Der Regie hätte ich schon zugetraut,
diesen verführbaren deutschen Provinzler Fritz schärfer als potentiellen Mitläufer
nationalistischen Wahns zu konturieren. Dennoch viel Beifall.
Neues
Deutschland, 3. November 1992