„Nachtasyl“ von Maxim Gorki am Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter

 

 

 

Luka zwischen Mülltonnen

 

Das Deutsche Theater in Berlin ist „Auf dem Grund" angelangt. So jedenfalls lautet die korrekte Übersetzung des Gorki-Titels „Nachtasyl". Wie auch immer: In unseren wendigen Zeiten in dem russischen sozialen Realisten einen Partner zu suchen, ist mehr als nur eine Frage ästhetischen Bekenntnisses.

Mit Maxim Gorki (1868-1936) begibt sich jedes Theater — noch unlängst vom Schauspielhaus Bochum zu sehen — „auf den Grund" menschlichen Lebens, aufspürbar in allen Schichten der Gesellschaft. Mit diesem Dichter verpflichtete sich jedes Ensemble zu realistischer Schauspielkunst. Gorki läßt sich nicht zu „assoziativem" Theater umstilisieren. Regisseur Friede Solter ist solcher Versuchung nicht erlegen. Er hat aber auch nicht ganz widerstehen können. Zumal ihm sein Bühnenbildner, Hans-Jürgen Nikulka, eine entsprechende Offerte machte.

Als Gorki das Stück 1901/02 schrieb, dachte er an einen Keller, der wie eine Höhle wirkt. So weit zurück in finstere zaristische Zeiten wollte Nikulka nicht gehen. Er wollte schon vom Bühnenbild her Gegenwärtigkeit, und zwar sozusagen die Hinter-, auch Kehrseite moderner Wohlstandsgesellschaft. Was ich verstehe. Was aber eben nicht nur assoziativen Gewinn bringt. Nikulka hängte Plastefolie rings auf. Sie drapiert links vier Autogaragen-Tore, nach hinten drei. Im quadratischen, großen Raum liegen Autoreifen, stehen Mülltonnen und ein Klinikwagen.

In diesem Allerwelts-Asyl wirken Gorkis Figuren seltsam verloren. Am sterilen Milieu können sie sich einfach nicht festhalten. Es isoliert sie. Die Situation ihres sozialen Geworfenseins stellt sich nicht her, sondern wird behauptet. Ihr Lebendigsein wird vorgeführt. Von Schauspielern, die — wie mir scheint — jeweils ihre eigenen Angebote spielen. Auf unterschiedliche Weise.

Otto Mellies bietet eine Variante seines Nathan. Der grundgütige Pilger Luka mit Brille, über die er weise blinzelt, wird zum darstellerischen Mittelpunkt. Diese Figur lebt. Der erfahrene Dulder kann zuhören. Er kann trösten. Das ist kein Spinner. Das ist ein Kenner. Wenn Satin nicht von ihm loskommt, versteht man das. Dieser Sträfling, Falschspieler und doch Fürsprecher des Menschen, bei Michael Walke ein vitaler Kerl in der Gosse, hat emotionale Kraft, die sich mitteilt. Leider haben Luka und Satin keinen ebenbürtigen philosophischen Widerpart. Sewan Latchinian gibt den Baron als einen spillrig-hanswurstigen, grimassierenden Deppen. Auch der Schauspieler ist hier eher ein Hohlkopf. Axel Wandtke faßt ihn so exaltiert und verspielt äußerlich, daß sich die Tragik der Gestalt verliert.

Bärbel Bolle (Nastja) sitzt den Abend lang auf einem larmoyanten Ton. Ursula Staack (Pelmeni-Händlerin) serviert ihre Sätze stereotyp schwankhaft. Franziska Hayner (Wassilissa) gibt eine kompakte junge Megäre. Ulrike Krumbiegel (Natascha) hat Sensibilität. Charakterstudien neben anderen von Horst Lebinsky (Kostyljow), Bernd Stempel (Bubnow), Horst Manz (Kletschtsch). Am „zeitgenössischsten" im Figuren-Konglomerat scheint mir Daniel Morgenroth als Pepel: ein tätowierter, kraftprotziger Puncker.

 

 

 

Neues Deutschland, 14 Mai 1990