„Nachtasyl“ von Maxim Gorki an der Berliner Schaubühne, Regie Andrea Breth

 

 

 

Weggenossen ins neue Jahrtausend

 

Man muß ehrlich spielen! Der Arbeiter Tatar (Jürgen Born), eine Randfigur in Maxim Gorkis „Nachtasyl", kann es nicht fassen, von seinen Leidensgenossen, von anderen Armen der Herberge, hinterhältig übers Ohr gehauen zu werden. Eine Episode nur, aber Andrea Breth hat sie in ihrer Inszenierung der „Szenen aus der Tiefe" an der Berliner Schaubühne anschaulich disponiert.

Das scheint mir eine Stärke dieser Regisseurin. Sie schafft Milieu, Atmosphäre, Stimmung, gliedert den gleichmäßigen Hergang des fast Zuständlichen übersichtlich und setzt wertend Akzente, erzwingt Aufmerksamkeit für Schicksale. Mit feinem Gefühl für den Dichter holt sie Passagen unaufdringlich nach vorn, in denen die Elenden, Menschen ja eben doch, ihre Erkenntnisse und Hoffnungen äußern.

Andrej, der ehemalige Schlosser (Günter Zschäckel), der seine Frau Anna (Heidemarie Schneider) halb totgeprügelt hat, sitzt und hantiert im Vordergrund der armseligen Bleibe. Diese ist keine Herberge im herkömmlichen Sinne, sondern eingerichtet fürs Geschäft an den Mittellosen im stillgelegten Teil eines Großstadt-Untergrundbahnhofes. Womit die Regisseurin und der Bühnenbildner (Gisbert Jäkel) das Geschehen geschickt in die Gegenwart holen (hervorragend ergänzt und kommentiert durch aktuelle Fotos von Abisag Tüllmann im Programmheft).

Die Arbeitslosen, Ausgestoßenen, Gestrandeten, so begreift man, sind kein Zufall aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, keine exotische Rarität aus Rußland (was man noch glauben konnte nach Stanislawskis Uraufführung 1902 am Moskauer Künstlertheater). Nein, sie sind international Weggenossen ins neue Jahrtausend. Und so selbstverständlich inzwischen, daß man sich damit abgefunden hat? Andrejs prononcierter Schrei nach Arbeit, Gerechtigkeit und Leben gehört in der Tat an die Rampe. Er könnte, das Spiel aufbrechend, sogar direkt und aggressiv ans Publikum adressiert werden. Indessen: So oder so, bewirken wird er nichts, kann er nichts.

Dennoch Theater! Auch weiterhin. Zumindest für jene Unverdrossenen, die sich wenigstens im Theater - wo sonst? - ihren gesunden sozialen Sinn bestätigen lassen möchten. Auch und gerade und immer wieder mit Gorkis „Nachtasyl". Vielleicht insgesamt weniger mit weihevollem Unterton als Evangelium der Bruderliebe, wie jetzt bei Andrea Breth, sondern härter, drastischer, unversöhnlicher. Denn die Wirklichkeit hat Gorkis latente gläubige Zuversicht längst liquidiert.

Insofern überzeugten die brutalen Szenen um den gefühllosen, roh geschäftstüchtigen Betreiber des Nachtasyls Kostylew, den Peter Simonischek als satten, eitel-selbstgefälligen, bulligen, stets mit einem Hund patrouillierenden tückischen Schurken gibt. Dessen Frau Wassilissa ist bei Corinna Kirchhoff ein animalisch triebhaftes, seine kleine Sehnsucht brutal verfolgendes Weib. Wendig und draufgängerisch ihr Geliebter, Sven Walsers Dieb Pepel; scheu und redlich seine Geliebte, Caroline Loebingers Nastja.

Insofern überzeugt auch, daß der Pilger Luka - in der Darstellung von Traugott Buhre - nicht zum Hoffnungsträger stilisiert wird. Dieser Luka ist ganz nebenher ein Leichenfledderer und ansonsten ein ankommender und wieder verschwindender, in aller Ruhe Illusionen verbreitender liebenswürdiger alter Herr. Hier insbesondere scheint mir die Regie sozusagen trefflich zeitgenössisch. Auch, wie Andrea Breth die bohrenden Fragen und sarkastischen Weisheiten Satins abliefern läßt, nämlich sehr unmittelbar, sehr nachvollziehbar. Mit den radikalen, lebensklugen Ansichten dieses Mannes kann man sich identifizieren.

Michael König mag nicht ganz die lockere Berserkerhaftigkeit haben, die dieser Figur zukommen könnte. Aber er spielt sie ohne Effekthascherei, als besessen von noch rüder Kraft, doch mit ausgebrannter, leerer Seele. Hans Christian Rudolph bleibt dem alkoholisierten Schauspieler alles schuldig, gibt ihn förmlich und steif. Ulrich Matthes' Baron ist letztlich von blasser Lottrigkeit.

Etwas unausgeglichen das Ensemble auf der Suche nach der wirklichkeitsnahen Geste der Gestrauchelten, nach dem realistischen Ton ihres bissigen Humors und ihrer unendlichen Klage. Nichtsdestotrotz eine sehenswerte Aufführung am Ende der Berliner Spielzeit 1991/92.

 

 

Neues Deutschland, 30. Juni 1992