„Diese ganze lange Nacht“ von Jorge Diaz am
Berliner Ensemble, Regie Alejandro Quintana
Dramatisches Zeugnis vom Mut chilenischer
Frauen
Wenn sich im Berliner Ensemble der Vorhang mit Picassos Taube zu Beginn des Dramas „Diese ganze lange Nacht" von Jörge Diaz hebt, gibt er den Blick frei auf den strahlend weißen Bühnenhorizont. Unwillkürlich assoziiert der Zuschauer zur flutenden Helligkeit und zur Weite des dunkelrot ausgelegten Raumes menschliche Offenheit, Freundlichkeit, Freiheit. Eine angenehm liebkosende, Zutrauen erweckende Musik (Rainer Böhm) bestätigt ihn.
Dann senkt sich der eiserne Theatervorhang.
Die Tür öffnet sich. Drei Frauen betreten die Zelle eines Gefängnisses. Die
Musik verklingt. Der Alltag des Widerstandes gegen die Diktatur in Chile hat
andere Töne — das harte Schlagen der Blechnäpfe gegen die Zellentür, das ewige
Tropfen eindringenden Wassers, die dumpfen, trotzigen Gesänge der Gefangenen,
die Entsetzensschreie der Gefolterten, die Schüsse aus den Maschinenpistolen.
Seit der denkwürdigen Aufführung der
„Ravensbrücker Ballade" von Hedda Zinner 1961 an der Berliner Volksbühne
hat kein Stück so unmittelbar das Schicksal eingekerkerter Antifaschistinnen
vorgeführt. Diaz' Drama, das hier seine DDR-Erstaufführung erlebt, entstand unter
Verwendung von Berichten und Zeugnissen von vier chilenischen
Schauspielerinnen, die, wie der Autor, in Madrid im Exil leben. Insofern haben
die Vorgänge authentischen, ja dokumentarischen Charakter.
Zu den drei Frauen, Rosario, Jimena, Olga,
kommt Aurora, eine prominente Fernsehschauspielerin, die, wie sich
herausstellt, ihre beliebten Sendungen benutzte, um verschlüsselte
Informationen überall im Lande zu verbreiten. Aber sie wurde ergriffen,
gefoltert. Olga ist in den Verrat verwickelt, Aurora ahnt es.
Mißtrauen und Verzweiflung führen zu
Auseinandersetzungen zwischen den Frauen. Jimena, eine schwangere
Bürgerstochter, durch Zufall in Verdacht geraten und inhaftiert, keine Linke,
aber auch keine Rechte, wie sie beteuert, will sich heraushalten. Sie wird zum
Verhör geschleppt und zu Tode geprügelt. Noch konnte sie das Kind gebären. Es
überlebt. Rosario, eine Lehrerin, nimmt sich des Babys an. Ob ein geplanter
Fluchtversuch Auroras gelingen wird, bleibt offen.
Indem der chilenische Regisseur Alejandro Quintana
das Geschehen auf die Vorbühne verlegte (Ausstattung: Manfred Grund), rückte er
die Frauen demonstrativ nahe an das Publikum. Nicht auf Detailnatürlichkeit kam
es ihm an, sondern darauf, die unpathetisch Kämpfenden mit verhaltenem
szenischem Pathos in die politische Bedeutung zu heben — denn nicht von
Vergangenem ist hier die Rede. Die lange Nacht der Tyrannei währt noch immer.
Zentrum, ruhender Pol der
Schicksalsgefährtinnen ist Rosario. Christine Gloger spielt eine erfahrene, vom
Leben gezeichnete Kommunistin, die den Ungeheuerlichkeiten mit unbeugsamer
Gefaßtheit aufrecht und würdevoll Widerstand leistet. Die Jimena von Kirsten
Block ist eine hochaufgeschossene junge Frau, die sich in Abwehr der unfaßbaren
Gefährdungen instinktiv nach innen zu ihrem noch ungeborenen Kinde kehrt. Olga,
die „registrierte Demokratin mit Unbedenklichkeitsbescheinigung",
wird von Ruth Glöss als eine scheue, von innerer Not gepeinigte, still-duldende
Frau gegeben. Aurora, die Schauspielerin, wird von Angelika Waller als ein
zartes, durch die Folter krankhaft sensibilisiertes Weib gezeigt, das die
entsetzlichen Elektroschocks überstanden hat und dennoch, nervig-weh zwar,
angstzitternd, auf Widerstand setzt.
Das 1979 geschriebene Stück (1984 brachte das
Volkstheater Rostock „Glanz und Tod des Pablo Neruda" von Jörge Diaz zur
Uraufführung) ist — so der Autor — ein Bekenntnis zum Theater als Zeugnis und
auch Agitation. Alejandro Quintana greift es auf und fügt seine Stellungnahme
hinzu. Am Ende der Aufführung — noch hält Rosario das Neugeborene schützend
fest — hebt sich der eiserne Vorhang, erlaubt wieder den Blick auf die flutende
Helligkeit. Und die aufklingende Musik spricht zärtlich von sicherer
Geborgenheit in einer freien, friedlichen Welt.
Ergriffen und lang anhaltend spendete das
Premierenpublikum Beifall.
Neues Deutschland, 19. Februar 1987