„Murx den Europäer! Murx ihn!... Murx ihn ab!“ von Christoph Marthaler an der Volksbühne Berlin, Regie Christoph Marthaler

 

 

 

Deutscher Volksseele in den Ausschnitt geschaut

 

Humor, gar souveräner Humor im Umgang mit Wirklichkeit, ist auf dem Theater selten geworden. Jedem Versuch sei a priori ein Bonus zugesprochen. Zum Beispiel dem Spektakel, das der Schweizer Christoph Marthaler als Autor und Regisseur jetzt an der Berliner Volksbühne auf die Szene brachte. Das ist zwar kein Stück im herkömmlichen Sinne, und der Titel ist eher abschreckend: „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!" Auch scheint der Untertitel „Ein patriotischer Abend" eher verwirrend. Aber die Sache hat Format. In ihrer Art, bitte schön.

 

Welcher Art? Ich möcht' nicht mit einem Ismus operieren. Etwa: absurder Naturalismus. Oder: parodistischer Realismus. Oder: snobistischer Dadaismus. Ob der Abend überhaupt in irgendein ästhetisches Schubfach paßt, ist nämlich weniger wichtig als die Frage, ob damit in Kommunikation zu kommen ist mit zeitgenössischem, vor allem jungem Publikum, das die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz offenbar für sich zu entdecken scheint.

 

Gerade junge Zuschauer haben einen wachen Sinn für Theater, das ihnen die Gesellschaft, die zu bevölkern sie die Ehre haben, aufbricht und ihnen die sagenhafte Vertraktheit menschlichen Daseins mit sarkastischem Witz gewissermaßen von innen zeigt.

 

Christoph Marthaler kann das. Was ihm dazu einfällt, sollte man selbst in Augenschein nehmen. Es schockiert zwar, es verstört, es befremdet. Und es sei davor gewarnt. Denn es verschweigt Ursachen. Aber es ergötzt. Wenn man sich erst einmal hineingeguckt hat in diesen nüchternen Speisesaal einer deutschen Anstalt (Bühnenbild Anna Viebrock), wo offensichtlich leicht erkrankte Bürger ihren reglementierten Alltag verbringen. Sie scheinen geistig zwar angeknackst, sie stehen dennoch symbolisch für den Durchschnittsbürger, den genügsamen, den unbedarften, den manipulierbaren, den vaterländischen Bundesbürger.

 

Isoliert sitzen sie an ihren Tischen, diese Deutschen, und warten, dumpf und trostlos, grübelnd und resignierend. Sie waschen ihre Hände auf Kommando, nehmen Tee auf Kommando, singen Lieder auf Kommando (Sonderapplaus für die extraordinäre „Dankeschön"-Hymne). Dazwischen werden billige Witze gerissen, stellt man sich gelegentlich ein Bein, zieht dem Nachbarn den Stuhl unter'm Hintern weg, lacht hämisch, eilt aufs Klo. Der Hausmeister, dem ansonsten ständig die Nase blutet, prüft die Feueröfen, aus welchen tragisch-traurig revolutionäre Gesänge erklingen. Und als ulkige Pausen fallen Buchstaben eines Sinnspruches von der maroden Wand.

 

Diese Leute, hervorragend entworfen, u.a. von Susanne Düllmann, Heide Kipp, Ueli Jäggi, Klaus Mertens, Wilfried Ortmann und Winfried Wagner, fristen ihr makabres Dasein, als sei es ein göttliches Geschenk. Wenn sie die Lieder anstimmen, patriotische Lieder, ziemlich kunterbunt, von den blauen Fahnen nach Berlin bis zum stillen Tal und bis zur Maas und an den Belt, dann leuchten ihre Augen, dann rücken sie zusammen (wobei die Musikanten, Jürg Kienberger am Klavier und Ruedi Häusermann an Saxophon und Klarinette, hervorragenden Anteil haben). Sie scheinen eine Macht, vor der man sich hüten sollte. Weil sie so anonym ist, so unberechenbar. Vor allem Ausländer sollten sich in acht nehmen vor dieser deutschen „Volksseele". Ein Verführer könnte sie zum Kochen bringen. Und wenn es in einer Wahlschlacht ist.

 

Viel Beifall in der Volksbühne.

 

 

 

Neues Deutschland, 19. Januar 1993