„Mütter und Söhne“ von Javier Tomeo an der Schaubühne Berlin, Regie Felix Prader

 

 

 

Muttermord mit Kichererbsen

 

Auf blau changierendem Vorhang in der Berliner Schaubühne leuchtet magisch ein roter Punkt. Davor sitzt wie hypnotisiert ein gedrungener, stiernackiger Mann. Leises Geklapper von Schreibmaschinen, Telefone in der Ferne. Wenn sich der Vorhang hebt, sagt der Wartende hoffnungsvoll, der große Augenblick sei gekommen. Was man sofort versteht. Er betritt nämlich — und dies so scheu wie neugierig — die hehren Räume einer Bank, speziell das kalt-elegante Zimmer des Personalchefs. Wo ihn der Gewaltige reserviert-arrogant empfängt.

Der Erfinder der kafkaesk-surrealistischen und wie ein Kriminalfall erzählten Geschichte „Mütter und Söhne", der 1929 geborene spanische Schriftsteller Javier Tomeo, kennt sich zweifelsohne gut aus. Bei den Banken, bei den Menschen. Sein Text, nach dem Roman für die Bühne eingerichtet von Felix Prader, ist szenisch dicht, eine exzellente Vorlage für zwei genaue Schauspieler wie Udo Samel. der den jungen Bewerber Juan D., und Gerd Wameling, der den Personalchef H.-J. Krugger gibt.

Ergötzend ein dramaturgischer Kniff: Der naiv-treuherzige Juan teilt dem Publikum en passant seine Erwägungen mit, wie wohl am besten zu taktieren sei, um die Stelle zu bekommen. Nachtwächter will er werden. Und es ist schon erstaunlich, was alles dieser Personalchef zum Kriterium erhebt für einen künftigen kleinen Hüter des großen Geldes. Leider war Juan zum Beispiel nie beim Militär! Also kann er nicht schießen. Also scheidet er eigentlich schon aus. Doch dieser Krugger verbeißt sich in ihn - psychisch. Da gibt es nämlich eine überraschende Affinität zwischen den beiden: ihren ödipalen Touch.

Je deutlicher Krugger spürt, daß der immerhin schon dreißig Jahre alte Juan über Arbeit von seiner Mutter loszukommen versucht, desto kräftiger bricht unfreiwillig seine eigene psychopathische Anfälligkeit hervor. Da schnürt es ihm die Luft ab, da röchelt es in ihm. Schließlich offenbart er sich: Seine Mutter ist auf Kichererbsen zu Tode gestürzt, die er eigentlich für das Hausmädchen bestimmt hatte.

Über ihre Mütter also, die nicht auftreten, kommen sich Juan und Krugger bizarr näher — und bei der Gelegenheit erfährt der junge Mann vom Personalchef so viele Details über die Bank und deren lustmolchigen Generaldirektor, daß er seine Bewerbung zurückzieht und durch die sich öffnenden Bank-Mauern (Bühne: Tobias Hoheisel) hinausschreitet in die sternenklare Nacht. Frei zwar wieder, aber ohne Job. Und erneut der Mutter ausgeliefert ...

Felix Prader, dar auch Regie führte, gab dem exorbitanten Fight dieser Muttersöhnchen eine reizvoll ironische Note. Die Figuren haben einen zart clownesken Gestus. Vor allem der Bewerber in der Gestalt Udo Samels. Dessen Juan ist ein sympathischer großer Junge. Auf seinem Gesicht gewittert es ständig. Alle überraschenden und seltsamen Erfahrungen, die dieser Postulant macht, steckt er nicht etwa weg, sondern reagiert sie per kommentierender Mimik sofort nach draußen ab. So schafft er es, innerlich stabil zu bleiben und seinen gesunden, von Mutter wohl gehüteten Menschenverstand entscheiden zu lassen.

Warmelings nervös kettenrauchender Personalchef indessen ist eine in den tagtäglichen dringenden Bank-Obliegenheiten zerriebene, fast erbarmungswürdige Kreatur. Ein Mann, der nie Liebe erfuhr, verkrampft, verhemmt, etwas verschroben, aber eben mächtig. Eine vorzügliche Charakterstudie.

Die genau gesetzten Ton-Montagen (Musik: Johannes Schmölling) wie auch subtile szenische Einfälle geben der Aufführung einen Ruch Irrationalität, die Leben verfremdet und zugleich offenlegt. Das Publikum — ich sah die zweite Vorstellung — goutierte mit viel Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 12. Juli 1990