Heiner Müller zum 60. Geburtstag

 

 

 

 

Vom Lernen im Theater oder: Die richtige Art, sich zu beteiligen

 

Seine Stücke ragen in unserer Theaterlandschaft auf wie schier unbezwingbare Felsmassive. Eine imposante Kette größerenteils recht gut erkundeter, kleinerenteils noch unerschlossener Gipfel eigenwilligster Gestalt. Auch mäßige Höhenzüge sind darunter. Insgesamt sind es nahezu dreißig an der Zahl. Eine Herausforderung für jeden Theatermacher, eine Enttäuschung für manchen Zuschauer, ein Abenteuer in jedem Fall. Selbst der Erfahrene dringt nur schwer zu den möglichen ästhetischen Reizen dieser Kunstwelt vor. Metaphernschwere, wenige einfach zugängliche, viele kunstvoll verschlüsselte Schauspieltexte. Der sie schrieb, Heiner Müller, wird heute sechzig Jahre alt.

Bertolt Brecht, sein nun schon ferner poetischer Ahnherr, wirkte mit fünfzig am eigenen Theater. Doch er und sein Berliner Ensemble waren auf dem Weg in den Weltruhm keineswegs unumstritten, in der Heimat nicht, nicht im Ausland. Das Durchsetzen des episch-dialektischen Theaters hatte sogar einen losen Zusammenhang mit dem Kampf um die Anerkennung des Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden. Müller, bereits mit dem Markenzeichen DDR versehen, standen da möglicherweise nationale und vor allem internationale Erfolge leichter ins Haus, so kompliziert und von Enttäuschungen nicht frei auch sein Weg war.

Heute ist zu resümieren: Heiner Müller hat wie kein zweiter deutscher Dramatiker nach Brecht die Schauspielkunst unseres Landes modifiziert und Einfluß ausgeübt auf das europäische Theater. Seine Stücke sind unterschiedlich gültige Zeugnisse für den Reichtum sozial-realistischer deutscher Theaterkunst. Sie sind in ihrer immer wieder heftig umstrittenen nackt dialektischen und opulent bildhaften Handschrift eine zeitfühlige theatralische Chronik der vergangenen Jahrzehnte.

Der Jubilar wurde in Eppendorf in Sachsen geboren. Zwei Erlebnisse seiner Kindheit prägten ihn tief. In dem Prosatext „Der Vater" berichtet er darüber: „1933 am 31. Januar 4 Uhr früh wurde mein Vater, Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, aus dem Bett heraus verhaftet." Der damals gerade vier Jahre alte Junge war durch Lärm in der Küche wach geworden. Durch das Schlüsselloch sah er, wie SA-Leute seinen Vater schlugen — und stellte sich schlafend, als sie zu ihm ins Zimmer traten. „Dies", so konstatiert der arrivierte Autor, „ist eigentlich die erste Szene meines Theaters."

Jahre später enttäuschte der Vater den Schuljungen. Er riet ihm, in einem Aufsatz über den Autobahnbau der Faschisten zu schreiben, daß er froh sei, weil der Vater vielleicht wieder Arbeit bekomme. Der Sohn schrieb — und empfand Verrat. „Von nun an war ein Bruch zwischen uns." Heiner Müller, sensibler, als man meinen mag, war für sein Leben geistig gepolt: zum Widerstand gegen Barbarei und zum Widerstand gegen Verrat der Revolution. Hierin ist er sich unbeirrbar treu geblieben.

Müller widersetzt sich der Barbarei, bei ihm Synonym für das Ende der Menschheit, für Imperialismus, Faschismus, Unterdrückung, Ausbeutung. Er fordert zum Widerstand auf, in seinen frühen, in seinen jüngsten Stücken. Selbst in jenen, die geschichtspessimistisch scheinen, verbirgt sich — und muß entdeckt werden — seine revolutionäre Lebensmaxime, vor allem aber in seinen unverwechselbaren Arbeitergestalten, dem Balke („Lohndrücker"), dem Flint („Umsiedlerin"), dem Donat „Bau").

Im Kapitalismus, so urteilte Müller 1986, sei zur Zeit nichts zu lernen außer Verweigerung. Im Sozialismus hingegen müsse „die richtige Art, sich zu beteiligen", gelernt werden. Wie Brecht hält Müller daran fest, daß im Theater gelernt werden soll. Ganz und gar nicht vordergründig und mit Vergnügen — exemplifizierte Brecht. Ebensowenig vordergründig, aber mit Mühe — praktiziert Müller. Wenngleich: Spätestens seit 1988, seit seiner fulminanten Inszenierung des „Lohndrücker" im Deutschen Theater, weiß man, daß dieser Autor/Regisseur auf der Bühne auch Vergnügen zu arrangieren versteht.

Den „Lohndrücker", sein erstes Schauspiel, legte Müller 1956 vor. 1958 folgte „Die Korrektur", geschrieben mit seiner Frau Inge nach einem Arbeitsbesuch im Aufbaugebiet des Kombinates „Schwarze Pumpe". Beide Stücke waren Beiträge zum „didaktischen Theater", das, angeregt noch durch Brecht, einen Weg bedeutete zu aktuell-politischer Theaterkunst.

Aber die kategorische Ausschließlichkeit der jungen Didaktiker ist auch mißverständlich, fordert Widerspruch heraus. Stücke wie „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" (1961), „Der Bau" (1964), nach Neutschs Roman „Spur der Steine", kamen zunächst nicht in die Theaterkommunikation. Des Autors These vom Sozialismus als einer asketischen Übergangsphase zwischen „Eiszeit und Kommune" war eine Metapher, in der die reichen Entfaltungsmöglichkeiten von Gesellschaft und Individuum unter sozialistischen Verhältnissen kaum mitgedacht waren, zu abstrakt-vereinfachend also, als daß sie hätte tagesaktuell produktiv werden können.

Die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft als Prozeß tiefgreifender politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wandlungen zu gestalten, bleibt Aufgabe und Anspruch an das künstlerische Talent Müllers wie überhaupt an die Dramatik unseres Landes. Müller hat sich diesem verpflichtenden Anspruch immer aufs neue gestellt, mit unterschiedlichem Erfolg — wie auch anders bei der komplizierten Neuartigkeit der Aufgabe?

Zugleich entdeckte er, immer auf der Suche, Schrecknisse der Geschichte und des Mythos als Stoffreservoir. Neben „Weiberkomödie" (1969) und — nach einer Vorlage von Gerhard Winterlich — „Horizonte" (1969), praktikablen DDR-Stücken für die Volksbühne unter Besson, und „Zement" (1972) nach Gladkow, einem realitätskräftigen Stück für das Berliner Ensemble unter Berghaus, entstanden nun seine „Greuelmärchen": „Philoktet" (1964), „Ödipus Tyrann" (1966), „Macbeth" (1972), „Germania Tod in Berlin" (1971), „Die Schlacht" (1975), „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" (1976), „Hamletmaschine" (1977).

Dies Zurückwenden in die Histonie war zugleich immer auch ein Hinwenden zu den unerbittlichen Klassenkämpfen unserer Epoche. Aber es schien dem Autor, daß, aus Geschichte und Gegenwart lebenshaltige Kunstwelten zu kompilieren, mit den überkommenen Techniken des Stückeschreibens nicht zu bewältigen sei. Er mißtraute ohnehin der Funktionstüchtigkeit der Fabel. Er griff auch hier zurück auf eine „fabelunsichere" Zeit sozialen Umbruchs. So finden sich in seinen collagehaften, fragmentarischen „Bruch-Stücken" im Grunde obszöne Späße des plebejischen Gauklers ebenso wie das Deklarative des mittelalterlichen Passionsspiels, das Karnevalistische des Fastnachtspiels, das Didaktische des humanistischen Schultheaters und die Grausamkeiten der italienischen Renaissance-Tragödie.

Der in Bewegung kommende Entspannungsprozeß der 80er Jahre bringt neue Einsichten, die von Müllers Werk ablesbar werden: Der Mensch ist keine Maschine, ihr auch nicht ausgeliefert. Dem didaktischen Element der Dramatik wieder stärker vertrauend, rät Müller zu leben, zu kämpfen — freilich illusionsloser denn je, wirklichkeitsrauh, widerspruchstotal. „Wolokolamsker Chaussee" (1984/87) mag als jüngstes Beispiel gelten.

Nach wie vor schwört der Dramatiker auf ein Theater, das dialektisch mit Metaphern arbeitet, die nicht sofort auf einen Begriff zu bringen sind, sich aber tief den Sinnen mitteilen und möglicherweise und bestenfalls später einmal an Erkenntnisgewinn umschlagen. Sein Problem — daß Vielzahl und Optik seiner Bilder die Zuschauer eher lähmen statt mobilisieren.

Auf Produktivität kommt es Heiner Müller schon an. Er argumentiert: „Man darf daraus, daß nicht alle Blütenträume reiften, nicht den Schluß ziehen, daß man aufgeben oder zurückstecken muß." Er denkt da durchaus auch an sich selbst. So baut er mit an der Zukunftsstruktur seiner Heimat — mit Zustimmung, mit Widerspruch, mit seinen phantastischen, seinen kruden dramatischen Erfindungen.

 

 

Neues Deutschland, 9. Januar 1989