„Mondlicht“ von Harold Pinter
am Berliner Ensemble, Regie Peter Zadek
Anrührende Trostlosigkeit bürgerlichen Alltags
Wenn der Alltag einer Familie kolportiert wird, ist das stets ein
Gemenge von Gerücht und Wahrheit. Warum nicht auch auf dem Theater. Der
englische Dramatiker Harold Pinter, anerkannter Großmeister der sogenannten
„Spülbeckenkunst" (Coward), hat mit seinem jüngsten, 1993 in London
uraufgeführten Stück „Mondlicht" allerdings nichts über Mensch und Dasein
mitzuteilen, was man nicht schon irgendwie wüßte.
Er, Andy, einst erstklassiger Beamter, loyal gegenüber der Struktur,
mithin vormals eine gefürchtete Macht, liegt todkrank im Bett und stänkert herum.
Sie, Bel, seine rundum redliche Ehefrau, sitzt am Bett und leidet tapfer.
Bilanz ihrer Gespräche: Eigentlich hat Andy nicht seine Frau, sondern Maria
geliebt. Der sattsam bekannte, fatale, sich in immer neuen Varianten
wiederholende Ablauf gutbürgerlicher Ehe. Dazu Sentenzen des Autors. Denunziation
des Denkens und der Vernunft beispielsweise, irgendwie sogar stimmig.
Wie locker Pinter fabuliert, seine bissige, bittere Mixtur von
Wahrscheinlichkeit und Phantastik, machen den Allerweltsfall ansehbar. Auch die
unprätentiöse Art, mit der ihn Peter Zadek jetzt am Berliner Ensemble in seiner
deutschsprachigen Erstaufführung auf die Bühne bringt (in Koproduktion mit dem
Hamburger Thalia Theater). Die Rollen sind typgerecht besetzt, die Schauspieler
genau geführt. Michael Degen gibt den bettlägerigen Andy, meist eine verloschene
Zigarre im Munde, überhaupt noch recht munter, zumindest im Kopfe. Ihm glaubt
man das Großmaul, das er gewesen sei. Noch als Kranker geht er rücksichtslos
mit seiner Frau Bei um. Und die ist ein wahrer Engel an Geduld.
Möglicherweise ist dies der besondere Realismus des Stückes, daß nämlich
Andy ganz selbstverständlich mit Maria, der Freundin seiner Frau, geschlafen hat,
die wiederum ein Verhältnis mit Bel hatte. Am Sterbebett Andys wird dies nicht
enthüllt, sondern offenbar nur einmal mehr konstatiert. Alle haben damit gelebt
und sich damit abgefunden. Nur Bel hat offensichtlich lange Zeit darunter
gelitten, denn sie ist zur Dulderin par excellence geworden. Aber ihren Andy vergöttert
sie noch immer.
Wie überaus einfühlsam Angela Winkler diese innig liebende Bel spielt,
wird zum Ereignis des Abends. Ihre Stimme ist von samtener Sentimentalität,
ihre höchst sensible Körpersprache von weicher, wunderbar fraulicher Zärtlichkeit.
Noch eben kann sie naiv und trocken, wie unbeteiligt, ganz sachlich vom Sterben
ihres Mannes reden, dann wieder liebkost sie ihn, schmiegt sie sich
hingebungsvoll an ihn. Mit unendlicher Nachsicht hat sie in all den Ehejahren
seine Bosheiten kompensiert. Eine Frau, deren Würde nicht zu zerstören ist.
Auch nicht, als Andys Söhne sich am Telefon verleugnen.
Das ist eine beklemmend tragikomische Szene. Jeke (Johannes Silberschneider)
und Fred (Dominique Horwitz) - simultan auf der Bühne - schwafeln intellektuell
über einen fiktiven Vater. Als aber Bel sie zu dem Todkranken rufen will, verstecken
sie sich witzelnd, geben sie sich als „chinesischer Waschsalon" aus. So
seelenlos, so kaputt kann das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sein.
Horwitz gibt einen impulsiven Fred, Silberschneider einen überspannten
Jeke. Eva Mattes führt Maria als noble Dame mit Monokel vor. Rolf Becker zeigt
Ralph, Andys Freund, Bels heimlichen Geliebten, als umgänglichen Bürger. Maria
und Ralph sind ein Paar und leben auf dem Lande, kommen mal eben vorbei, glauben
nicht recht, daß Andy auf dem Sterbelager liegt. Wie man dies übrigens auch als
Zuschauer nicht so recht glauben mag. Zu rüstig noch räsoniert dieser Kranke,
obzwar er immer mal wieder, deliriumverdächtig, von Enkeln träumt, die offenbar
nie geboren wurden.
Der Autor hat Realität und das, was die Hauptfiguren möglicherweise nur
denken, sich aber schaubar abspielt, nahtlos miteinander verwoben. Und der
Regisseur sortiert nicht, geht direkt ins Spiel - in einem tristen Bühnenbild
Karl Kneidls, das blauen Himmel, öde Häuserwand, verschlissene Werbung für
Galibier und bürgerliches Mobiliar prosaisch mischt. Unter
solch ernüchternden Umständen hat es ein echter Geist schwer. Deborah Kaufmann,
die als tote Tochter Bridget zu erscheinen und vom Vollmond zu berichten hat,
der nicht untergeht, meistert den Part jedoch mit Anmut.
Peter Zadek, der 1993, als er zum Berliner
Ensemble kam, mutig das erklärt soziale Engagement dieses Hauses fortzuführen
schien („Das Wunder von Mailand", „Der Jasager und der Neinsager",
„Ich bin das Volk"), fügt sich 1995 wieder ein ins Establishment. Mit
einem anrührend angerichteten Stück allseitiger Trostlosigkeit. Viel Beifall.
Neues
Deutschland, 28. April 1995