„Moffenblues“ von Gerardjan Rijnders
in den Kammerspielen des DT Berlin, Regie Gerardjan Rijnders
Jetzt weiß man, das bleibt so!
An der Stelle, an die eigentlich eine Pause gehört hätte, damit der enttäuschte Teil des Publikums ohne zu stören den Saal verlassen kann, an der Stelle sang Chun Mei Tan (nicht aus China importiert, sondern aus Holland) zur Freude ihrer in den Kammerspielen des DT in Berlin erschienenen Landsleute den herzigen, offenbar sehr beliebten Alberti-Schlager „Zusammensein". Der bis dahin quälend langstielige Abend der Uraufführung des Stücks „Moffenblues" von Gerardjan Rijnders bekam auf einmal eine Ahnung von Format. Aber was hatte das mit den Moffenblues zu tun, den Deutschen? Nichts! Denn sie verstanden den Text nicht. Und es blieben noch andere Fragen offen.
Der Holländer Gerardjan Rijnders, ein
studierter Mann des Theaters, Produzent von etwa zwanzig Stücken, hat besagten
Schlager genommen, deutsche Volkslieder, Musik-Zitate Beethovens, die historische
Gestalt der Anne Frank, einen Sack voll Aphorismen über die Menschen, auch die Deutschen
(Text-Menge ausreichend für etwa zwei Stunden), sowie Signal-Worte wie „Ostdeutsche",
„Mauer" und „Zella-Mehlis" und hat alles gründlich durcheinandergequirlt.
Sodann hat er sich von Paul Gallis mit Materialstücken der Firma INSTANT DUTCH ein
Stahlgerüst auf die Bühne bauen lassen (gelegentlich im Text Babylonischer
Turm genannt, ästhetisch übrigens durchaus Geschmack verratend) und hat als
Arrangeur vor, in, auf und zwischen das Gerüst die Schauspieler platziert, die
die Sinnsprüche und die Gedankensplitter bedeutungsschwanger gestikulierend
herzusagen haben. Was die Damen Margit Bendokat, Petra Hartung, Gabriele Heinz,
Gudrun Ritter, Stefanie Stappenbeck und Chun Mei Tan sowie die Herren Guntram
Brattia, Thomas Dannemann, Christian Kuchenbuch und Thomas Neumann mit einer
heilig-fatalistischen Inbrunst vollbringen, als hinge das Engagement des
nächsten Dezenniums davon ab.
Was sie so sagen? Beispielsweise dies: „Ich hab's! Es
muß ein großer Durst sein nach Christi Geist." „Verführung zu denken, daß
das Leben einen Sinn hat." „In Zella-Mehlis in Thüringen lebt der Durchschnitts-Deutsche."
„Die Ostdeutschen genießen den Sex mehr." „Was ein Ostdeutscher fühlt,
wenn es ihm kommt?" „Dieses Getöse von Wolkenkratzern!" „Alex
macht's auch mit Männern. Wo? In Moabit." „Die Mauer fiel, und die Kloaken
gingen auf." „Jetzt weiß man, das bleibt so!" „Ich habe Angst, in die
eigenen Fußnoten zu fallen." „Ärgerlich, keinen Quantensprung machen zu können."
„Jetzt kann man alles sagen, aber es hört keiner mehr zu!" „Küß mich! Nein
danke, ich bin nicht arbeitslos!" Et cetera, et
cetera.
Ist da ein höherer Zusammenhang? Irgendein theatraler Sinn? Davon, daß
auf der Bühne mittels einer Fabel Nachdenkenswertes erzählt wird, müssen wir
uns wahrscheinlich vorläufig verabschieden. Das Theater werkelt mit gewisser Hingabe am Versuch, möglichst alles und nichts sagende
Bühnenereignisse zu etablieren. Kriterien: Das Verb „ficken" muß auf alle
Fälle dabei sein. Günstiger ist, wenn irgendwann in einer Ecke so nebenher ein
Pärchen innig kopuliert. Schlüssige Aussagen über Mensch und Gesellschaft
jedoch kommen bitte möglichst nur noch minimiert vor, am besten auf unverbindliche
Bonmots reduziert.
Rijnders bietet ein Sammelsurium von
Sprüchen, ironische Seitenhiebe nach hier und dort, hübsch dekorativ ausgestellt.
Kein Theater mehr, sondern eher die Geschäftsstelle des Autors, der mit
Andeutungen handelt: Anne Frank hat noch immer Probleme mit den
Deutschen.
Die Holländer haben Probleme mit Anne Frank (das Andenken an das jüdische Mädchen
ist zur Touristen-Attraktion verkommen). Die Ostdeutschen fügen sich in die über
sie gekommene „freie Sklavenmacht". Und die Deutschen überhaupt sind
eigentlich recht nette Menschen. Oder? Nichts Genaues weiß man nicht.
Neues
Deutschland, 5. März 1996