„Die Möwe“ von Anton Tschechow an der Berliner Schaubühne, Regie Andrea
Breth
Imogen Kogge (Nina) und Michael König (Sorin)
Entrümpelung der Szene
Tschechows Figuren verfolgten mich aus der Berliner Schaubühne bis in
den Schlaf. Das spricht für die Intensität ihrer Präsentation. Dabei hat es
sich Chefregisseurin Andrea Breth mit der „Möwe" schwer gemacht. Obwohl
erklärtermaßen auf der Suche nach der Seele des Stückes, also bemüht um die
Befindlichkeit der Menschen, löste sie die Figuren aus deren natürlichem
Umfeld, aus dem Park im Sorinschen Gut, und verpflanzte sie in eine abstrakt-zeitlose
Arena.
Die Bühne (Gisbert Jäkel): ein weit gezogenes, blau-weiß gehaltenes
Oval, gleich einer geöffneten Muschel mit ins Ungewisse führendem schwarzem
Schlund, irgendwie schön, aber kalt und unfreundlich, als Innenraum später nach
hinten mit glatter heller Wand abgeschlossen. Widersprüchliche Konsequenz: Der
neutrale Ort ermöglicht zwar stärkere Konzentration auf den Text, löst das
Spiel aber aus seinem sozialen Milieu. So leidet immer mal wieder das filigrane
Netzwerk menschlicher Beziehungen. Statt Intimität weite, zeitaufwendige Gänge;
statt gestischem Handeln die arrangierte Position, fast das Tableau.
Warum der Ehrgeiz, ausgerechnet bei Tschechow nicht naturalistisch sein
zu wollen? Wahrscheinlich als demonstratives Bekenntnis zu dem traurig
scheiternden Trepljow, dem jungen Avantgardisten, der ein theatrales Experiment
als einen Versuch abstrakter Kunst offeriert. Die von Imogen Kogge als Nina
einfühlsam hymnisch-sphärisch gesprochene Vision Trepljows vom erloschenen
Erdenleben wird in Jäkels entromantisiertem Bühnenbild, also ohne Mond, zum
programmatischen Auftakt des Abends. Huldigung einer Theatralik, die uns heutzutage
allerwege begegnet. Tschechow warf das Problem vor genau hundert Jahren auf, war
aber geteilter Meinung. Sein Arzt Dorn engagiert sich, Trepljows Mutter
hingegen qualifiziert den Versuch ihres Sohnes als dekadent ab. Wie aus Trotz
nun - scheint es -auferlegt die Regisseurin der Trepljowa, sich in eben der abstrakten
Spielwelt zu bewegen, die sie ablehnt.
Aber damit ist Tschechows Komödie nicht unbedingt tiefer erschlossen.
Zumal Libgart Schwarz die Arkadina Trepljowa, diese egozentrische Schauspielerin,
diese glückliche Gans, ob ihrer Engstirnigkeit nicht in die Kritik nimmt, sondern
sich innig identifiziert und sie so differenziert wie spielfroh als herrlich
unbedarftes Frauenzimmer serviert.
Komik bringt Thomas Thieme ins Spiel, der den Jewgeni Dorn gibt, den
Arzt. Das ist kein Fünfundfünfzigjähriger, der sich angesichts allgemeiner
Lebenstraurigkeit in eine abwehrende Wurstigkeit geflüchtet hat. Das ist ein
Mann von dezidierter Vernunft, der mit seinen trocken-lakonischen Bemerkungen
die triste Stimmung aussichtslos Leidender und glücklos Liebender immer mal
wieder alert aufrauht. Mitleidlos, aber korrekt bemüht er sich um den alternden,
dann kranken Pjotr Sorin (Michael König), konsequent behandelt er die krankhaft
süchtige Mascha (Corinna Kirchhoff). Wenn er Trepljow umarmt, an dessen Talent
er glaubt, geschieht das in aufrichtiger Herzlichkeit.
Trepljow. Ein begabter Spinner? Ein verbitterter Don Quichotte gegen etablierte
Kunst? Wenn er, inzwischen anerkannter Schriftsteller, von Nina abgewiesen, die
Erzählung, die er gerade in der Feder hat, in Stücke reißt, führt das Ulrich
Matthes penibel naturalistisch vor. Ein kleinlicher Kleinbürger richtet sich.
Doch keine Distanz des Darstellers, keine bittere Ironie über die elende
Schwäche dieses Künstlers, sondern verständnisinnige Identifikation. Wir sind
am Ende wieder ganz konventionell bei Tschechow.
Und dazu gehören Aufstieg und Verzweiflung Ninas, der Möwe. In ihrer
blinden Liebe zu Trigorin (bei Wolfgang Michael ein abgeklärt selbstbewußter
Schriftsteller), schafft sie es zur Schauspielerin. Von ihrem Liebhaber
verlassen, weiß sie sich aus provinziellem Sumpf nicht zu befreien. Imogen
Kogge, anfangs als aufgekratzt umtriebige, naive Bauerndirne, führt ein
geistiges Wrack vor, eine früh gealterte Frau.
Resümee: Selbst der Versuch, dem Tschechow abstrakt beizukommen, führt
letztlich zu dessen Charakterisierungskunst. Andrea Breth mied allerdings
lastende Melancholie und allzu offensichtliches Leiden. Daher kommen einem die Gestalten
so nahe. Oder lag es doch an der Entrümpelung der Szene?
Neues
Deutschland, 18. Dezember 1995