„Von morgens bis Mitternacht“ von Georg Kaiser an der Schaubühne Berlin, Regie Andrea Breth

 

 

 

Geld ist der armseligste Schwindel unter allem Betrug

 

Als ihm eine mondäne Dame aus Florenz (Corinna Kirchhoff) die Hand reicht, zieht es ihn geradezu magisch heraus aus seinem Kassenschalter ir­gendwo in deutscher Provinz: den Kassierer einer Bank in Georg Kaisers Schauspiel „Von morgens bis Mitter­nacht". Der Mann dreht durch. Er bildet sich ein, mit Madame verreisen zu können - und plündert seine Bank.

Das expressionistische Stück aus dem Jahre 1912 hat Chefregisseurin Andrea Breth jetzt in eigener, leicht gekürz­ter Fassung an der Berliner Schaubühne inszeniert. Ob­wohl der Abend durch bewußt getragenes Ausspielen der ex­pressiven Gedanken und durch eine Fülle ergänzender symbolischer Bilder auf drei­einhalb Stunden gedehnt ist, bleibt man neugierig auf des Kassierers kolossalen Irrtum und was er daraus macht.

Andrea Breth nutzt mit un­erschöpflicher, fabeldienli­cher Fantasie die moderne Technik der Schaubühne für eine ästhetisierende wie schwerelos sich von der Reali­tät abhebende, historisch sich gebende Expressionismus-Schau. Mensch und Umwelt in ständiger verworrener, un­durchschaubarer Bewegung. Das Leben - ein grotesker Taumel.

Die Szene (Bühnenbild Gisbert Jäkel) ist mitternächtlich dunkel gehalten. Durch plastisches Herausleuchten der Vorgänge und durch geheim­nisvoll lautlos sich vollziehen­de Verwandlungen des Rau­mes wird eine sozusagen äthe­risch reine Theateratmosphä­re beschworen. Aktuelle Bezü­ge zur Wirklichkeit werden nicht behauptet, liegen ande­rerseits auf der Hand. Der Drang des Menschen nach sinnerfülltem Leben hat, wie man weiß, viele Gesichter.

Der Kassierer, der bei Ma­dame abgeblitzt ist, aber 60 000 Mark vom Bauverein in seinen Jackentaschen hat, flüchtet kopflos erst einmal auf einen winterlichen Baum. Wo ihm ein Knochengerippe erscheint (bei Andrea Breth die sich schmiegende und lockende Libgart Schwarz). Im Kreise seiner Familie, wo­hin er es halberfroren gerade noch schafft, läßt er sich wie ein Pascha verwöhnen. Aber die Frau (Imogen Kogge), die Mutter (Katharina Tuschen) und die Töchter (Tina Engel, Caroline Loebinger) bieten ihm just nur den üblichen stu­piden Alltag. Hypnotisiert vom Gedanken an ein erleb­nisreiches Dasein, geht er auf und davon.

Peter Simonischek schau­spielt leider über alle Szenen hinweg mit relativ gleichförmiger Sprechweise einen le­diglich artistisch behenden Herrn. Regieeinfälle,     beispielsweise auf dem Rücken liegend und Kopf voran eine Treppe hinabzugleiten, schafft er effektvoll. Ansonsten ist sein Bankangestellter offenbar schon so frustriert, daß die ungewöhnlichen Ver­hältnisse, in die er gerät, des­sen allgemeine, leicht larmoyante Haltung nicht ändern. Gelegentlich immerhin wird er laut. Wenn er die Enttäu­schung des Kassierers loswer­den muß. Und die ist groß.

Mit Geld, begreift er, kann man sich zwar allerhand kau­fen, doch Erfüllung der Wünsche ist keineswegs garantiert. Beim 6-Tage-Rennen, wo er sich an der naiven Begeiste­rungsfähigkeit der Masse be­rauscht, die er mit Preisstif­tungen anheizt, sorgt das Er­scheinen „Seiner Majestät" für preußische Disziplinie­rung. Was ihn ernüchtert. Beim Besuch im Ballhaus ent­puppen sich verführerische Masken als Trug. Was ihn noch mehr irritiert. Und die Kleine von der Heilsarmee (Karoline Eichhorn), die an­geblich um seine Seele ringt, verpfeift ihn für das liebe Geld bei der Polizei. Das haut ihn um.

Immer wieder sah er in die Menschen, in die Dinge etwas hinein, erhoffte er sich, was seine innerste Sehnsucht war, aber die Realität niemals bot. Also zieht er einen Revolver und macht Schluß. Und der auf einem Kronleuchter her­abschwebende Tod verschafft ihm einen bombastischen Ab­gang. Sollten wir vielleicht doch lieber alle zur Pistole greifen...?

 

 

Neues Deutschland, 24. Mai 1993