„Der Menschenfeind“ von Molière an der
Volksbühne Berlin, Regie Henry Hübchen
Souveränes ‚Marmeladen-Theater’
An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin führt Regisseur Henry Hübchen seine Inszenierung mutig in eine Krise. In Molières „Menschenfeind" läßt er auf dem Höhepunkt des Konfliktes Alceste, den schwarzgalligen Liebhaber, Oronte, dessen Konkurrenten, und die von beiden geliebte Celimene durch Mord und Schüsse aus der Kulisse dahinscheiden. Worauf Eliante, Celimenes Tante, die blutige Sterberei als „Marmeladen-Theater" bezeichnet und bei der Gelegenheit tief resigniert nach dem Zweck des Unternehmens fragt.
Die Antwort ist so erbarmungslos profan, wie
es das Leben erheischt: Weitermachen! Weiterspielen! Obwohl alles keinen Sinn zu
haben scheint. Also rappeln sich die Figuren wieder auf und bringen zu Ende,
was Jean Baptiste Molière vor über 300 Jahren aufs geduldige Papier schrieb.
Und was Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens zeitgenössisch passabel übersetzten und
bearbeiteten. Das war sehr wohl eine deftige Fassung gegen die deutsche
Mauer-Republik gewesen. Um so verblüffender, daß der Misanthrop, der
gesellschaftliche Heuchelei hassende „Menschenfeind", auch heute Wirkung
macht.
Zumindest, wenn er, wie hier von Henry
Hübchen, souverän fabeldienlich in Szene gesetzt ist. Nur selten
verselbständigen sich die Einfälle, wie etwa das Suchen nach Briefschaften in
Rock und Mantel. Im wesentlichen fabuliert der Regisseur die verwinkelte
Rede-Geschichte überschaubar. Vielleicht ist er um eine Idee zu ausführlich, zu
verliebt auch in die Zäsuren, aber stets ist er sinnfällig beredt.
Dem plastischen, reizvollen Spiel dient das
Bühnenbild Bert Neumanns. Ein dunkelblauer Guckkasten als Ort des Geschehens
mit hellblauem Rahmen setzt klar eine Spielwelt. Die die Figuren allerdings
gern verlassen, um näher am Publikum zu sein. Vor allem Alceste hofft auf
Verständnis im Zuschauerraum.
Horst Westphal verleiht diesem chwierigen,
eigentlich ganz literarischen Charakter markante Züge. Er erzählt Alcestes
utopischen Anspruch an den Menschen als skurril und unmöglich, ohne ihn zu
diffamieren. Schließlich ist's eine lautere und redliche Absicht, immer und
überall die Wahrheit zu sagen. Aber es hat sich in der Gesellschaft nun einmal
als Norm herausgebildet, nicht jedermann ins Gesicht zu bekunden, was man über
ihn denkt.
So ist Alceste eine tragikomische Figur,
zumal er mit seiner Unbedingtheit auch bei der jungen Witwe Celimene abblitzt.
Dies galante Frauenzimmer, von Claudia Michelsen sehr differenziert und ausdrucksreich
gegeben, hat durchaus keine Veranlassung, mit dem fanatischen älteren Herrn auf
eine einsame Insel zu verduften. Wobei die Darstellerin zwar Flirt und Nonchalance
spielt, aber keine oberflächliche Koketterie.
Hierin glänzt die Inszenierung mit
merklicher Ernsthaftigkeit. Sie ist nicht äußerlich, etwa im Gehabe der
Gestalten. Obwohl sich dies anböte. Hinter höfischer Etikette versteckt wurde
bei Molière mit der Wahrheit gnadenlos operiert, sogar Politik gemacht. Er
kannte sich da aus. Hübchen aber führt nicht die Hofgesellschaft vor, deren
Galanterie und Schnickschnack. Er zeigt das Allgemeinmenschliche, das immer
Gültige. Und seine Komik ist dennoch konkret, hat menschliche Substanz: bei Eliante
(Susanne Düllmann), Arsinoé (Annekathrin Bürger), Philinte (Werner Senftleben),
Oronte (Maximilian Löser), Clitandre (Florian Martens), Acaste (Magne Hovard
Brekke). Die Komik wird einmal amüsant aktualisiert: Wenn Teenager Sabine (Theresa
Hübchen), eine Hinzuerfindung, jugendlich frisch altkluges Emanzen-Latein
beisteuert just in dem Moment, da sich die Frauen, noch eben verstritten,
zueinander finden gegen die Männer.
In der Tat, dies ist ein ironisches
Stück gegen die Unaufrichtigkeit, abgehandelt am ewigen Kampf zwischen den
Geschlechtern, eingebunden in die sozialen Verhältnisse. Die mögen sich wenden
und wandeln. Nicht aber der Mensch. Das ist Grund zu verzweifeln, gewiß.
Alceste, den seine Besessenheit sogar vor Gericht führt, verläßt die
Gesellschaft. Seine Kompromißlosigkeit ist auch Borniertheit. Er mag sich nicht
zuordnen zu denen, die sich gegenseitig tolerieren und damit Berge, in diesem
Falle eine mächtige Säule, versetzen. Und immer sind auch willfährige Anpasser
darunter.
Hübchen gibt der galligen Komödie
einen zornig-aufklärerischen Touch. Das ist gute Tradition an der Volksbühne,
das rückt die Aufführung würdig in die Linie, die sich bis Erwin Piscator
zurückverfolgen läßt. Herzlicher Beifall. Bravo-Rufe.
Neues
Deutschland, 5. Dezember 1991