„Mensch Meier“ von Franz Xaver Kroetz an der Berliner Volksbühne, Regie Siegried Höchst

 

 

Befangen in Illusionen

 

Mit „Mensch Meier" stellt die Berliner Volksbühne ein Stück des BRD-Autors Franz Xaver Kroetz vor. Die Familien und Ehepaare, die kleinen Leute in den deftigen Volksstücken dieses Dramatikers sind den Existenzmechanismen heutiger monopol-kapitalistischer Industriegesellschaft bis zu totaler Entfremdung ausgeliefert. Sie alle sind unzufrieden mit dem, was sie umgibt. Aber sie drängen nicht auf Veränderung der Umstände. Sie hegen die Illusion, daß es genügt, sich selbst zu ändern. Da steckt die bittere Tragikomik der Kroetzschen Figuren. Und die Bitterkeit bleibt, selbst wenn er ihnen wie in dem 1977 entstandenen Volksstück „Mensch Meier" eine Chance gibt — die Chance zu lernen.

Otto Meier allerdings scheitert. Er ist ein ungelernter Arbeiter, ausgerüstet mit einem überdrehten Selbstbewußtsein, das sich als rundum aufmanipulierter kleinbürgerlich-bornierter Dünkel entpuppt. Sein Sohn Ludwig will Maurer werden, während Otto und Ehefrau Martha einen Beamten aus ihm machen möchten — wegen der sozialen Besserstellung. Doch Ludwig findet keine Lehrstelle und liegt den Eltern auf der Tasche.

Um sich einmal ein Vergnügen leisten zu können, bittet der Sohn um Geld, das ihm der Vater nicht gibt. Prompt bestiehlt er die Mutter. Die fünfzig D-Mark fehlen ihr beim Einkauf im Supermarkt. In der peinlichen Situation dort brüskiert sie ihren Ehemann. Ludwig, wegen des Geldes vom Vater verhört, schweigt verstockt, nimmt die Demütigungen hin — und verläßt die Eltern. Angesichts seiner Ohnmacht tobt der Hausherr und demoliert die Wohnung, da verläßt ihn auch Martha. So zappelt Otto Meier schließlich als ein Opfer im Netz der Illusionen und Phrasen von Freiheit und allgemeiner Wohlfahrt.

Obwohl scheinbar ganz alltägliche Handlungen ablaufen, ist das Geschehen von bedrückender Tragik. Zwar lernt Sohn Ludwig nun Maurer, zwar arbeitet Martha nun emanzipiert als Verkäuferin und setzt ebenfalls aufs Lernen — aber Ottos Verzweiflung relativiert alle Hoffnung.

Eine Aufführung des Stückes hierzulande kann sich den Vorgängen nicht kommentarlos nähern. Für Siegfried Höchsts Inszenierung liefert Jochen Finke mit einer ironischen bühnenbildnerischen Anspielung auf westdeutsche Fernsehklischees, die ein fragwürdiges Wohlleben vorgaukeln, einen kritisch-wertenden Rahmen. Damit, wie auch durch die Musik der Gruppe Pankow, ist freilich nur ein Akzent gesetzt. Höchst faßt die Figuren unmittelbar. Sie sprechen — wie das der Autor ausdrücklich wünscht — dialektfrei. So geht zwar deren „depperte" Dümmlichkeit und womöglich das eigentliche Kolorit des Volksstückes verloren, andererseits gewinnt das Ganze an Allgemeingültigkeit für die Alltagswelt, in der die Meiers leben. Dennoch hätte die offenkundige geistige Enge der Figuren wie deren gesellschaftliche und geschichtliche Ferne eine zwar nicht denunzierende, wohl aber behutsam distanzierende Wertung vertragen. Hier blieb Höchst unentschieden. Er hatte — scheint mir — zuviel Respekt vor dem Eigenleben Kroetzscher Gestalten, das er nun allerdings glaubhaft entwirft.

Jürgen Rothert gibt den Otto, vollgestopft mit unerfüllbaren Sehnsüchten, eingesperrt in die landesüblichen Ängste vorm Chef, vor der Arbeitslosigkeit — und tyrannisch zu Hause. Ursula Karusseit zeichnet zunächst eine getreue, untertänige Ehegattin, dann eine zwar noch unsichere, doch zunehmend selbstbewußter werdende Frau. Herbert Sands Ludwig prägt sich ein als ein trotziger Junge, dem man zutraut zu werden, was er will.

 

 

Neues Deutschland, 29.April 1986