„Der Mensch, der“ von Peter Brook, Gastspiel
im Berliner Ensemble, Regie Peter Brook
Romantik des Schwachsinns
Doktorspiele. Dreizehn an der Zahl. Auf
simplem Podest. Mit weißen Stühlen, einem Tisch, zwei Monitoren. Vorführungen
geistig kranker Menschen. Wie sich in ihren Köpfen Sinn und Schwachsinn
verknäueln und was davon Rätselhaftes sichtbar wird. Dergestalt, daß ein Musikprofessor,
dessen Geist durcheinandergeriet, seinen Hut mit dem Kopf seiner Frau verwechselt.
Oder daß ein Kranker nur noch „ja" oder „diffizil" zu sagen vermag.
Oder daß ein anderer sein linkes Bein für das einer Leiche in seinem Bett hält.
Oder ein weiterer sich über seine Tics (Tourettesches Syndrom) amüsiert. Irre
komisch! Auf die Dauer bedrückend. Und was noch?
Darauf eine Antwort zu finden, erhält der
geneigte Zuschauer im Rahmen der 43. Berliner Festwochen jetzt am Berliner
Ensemble Gelegenheit. Peter Brook und sein Centre International de Creations
Théâtrales gastieren mit der in jahrelanger Feinarbeit entstandenen Produktion „L'homme
qui" („Der Mensch, der"), einer „theatralischen Recherche" über
„verrückte" Menschen, über Leute, bei denen es im Oberstübchen nicht mehr
ganz richtig tickt, die sich in ärztlicher Behandlung befinden.
Immerhin hält der 1925 geborene Peter Brook,
der zur Zeit wohl bedeutendste Regisseur dieser Erde, das Theater nach wie vor
für einen Ort, „wo denen, die sich darin versammeln, geholfen werden kann,
besser dem Leben zu trotzen, ihm die Stirn zu bieten. Vorausgesetzt, das Theater
leistet alles, was es zu leisten vermag."
Und das wäre? Das Abtauchen in den erkrankten
menschlichen Geist? Bertolt Brecht glaubte an die Veränderbarkeit der
Gesellschaft wie des Menschen und sah darin Aufgabe und Chance des Theaters.
Nämlich mit geistigen Impulsen zu helfen, das praktische Dasein zu verbessern.
Derzeit aber hat Theatermacher tiefe Skepsis und wägende Vorsicht ergriffen. Klammheimlich
sind sie auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Ein Mann wie Peter Brook, der
weiß Gott eine Lippe riskieren könnte, dessen Stimme Gewicht hätte, wich auf
seiner Berliner Pressekonferenz sogar der Frage aus, was er von der Schließung
des Schiller Theaters halte. Kein offenes und klares Auftreten gegen
kulturellen Kahlschlag, nicht einmal Engagement für seine Kollegen. Nein, nur
Ausflüchte. Schon vorher hatte er erklärt: „Wer wagte heute ein Stück über die
deutsche Wirklichkeit zu schreiben; wer würde mehr dabei zutage fördern als
Banalitäten?"
Gewiß, das ist das Problem. Die Gesellschaft
scheint unerklärbarer denn je. Und keine soziale Kraft weit und breit, an die
sich Hoffnung binden lassen könnte, und sei es verzweifelte, tragische. Wie das
einst von Dichtern Helden zugemutet wurde, die sie ihrer Zeit vorauseilen
ließen. Sage bitte niemand, es gebe diese Helden nicht, die sich aufreiben, die
sich verschleißen für ein Quäntchen mehr Menschlichkeit. Sage das vor allem
nicht jemand, der sich in Europa, Asien und Amerika gut auskennt. Keine
kritische theatralische Recherche also über Mensch und Gesellschaft, kein
Versuch, Widersprüche vielleicht auf einen Begriff zu bringen, sondern
Erkundungen, welch bizarres Verhalten erkranktem Gehirn entspringen kann.
Der englische Neurologe Oliver Sacks, der in
New York arbeitet, veröffentlichte 1985 sein inzwischen zum Bestseller
avanciertes Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte". Davon
ließ sich Peter Brook anregen. Denn, meint er, „wie auch immer die sozialen und
nationalen Unterschiede sein mögen, wir besitzen alle einen Kopf, den wir zu
kennen glauben, an den wir gewohnt sind. Sobald wir aber in dessen Inneres
eindringen, befinden wir uns auf einem anderen Planeten".
Von Störungen auf diesem „anderen
Planeten" geben Brooks Schauspieler Informationen. Hochsensibilisiert, präzise,
sachlich, geradezu penetrant realistisch. Im Wechsel Doktor oder Patient. Der Franzose
Maurice Benichou, der Deutsche David Bennent, der Afrikaner Sotigui Kouyate,
der Japaner Yoshi Oida. Sie ziehen sich einen weißen Kittel über und sind
behutsamer, um den Kranken bemühter Arzt. Sie streifen den Kittel ab, und ihr
Blick richtet sich nach innen, ist scheu und unsicher, ist unschuldig und hilflos,
ist Offenbarung kranker Seele. Viele, viele genaue Details. Behutsam
zurückhaltende musikalische Kommentare: Mahmoud Tabrizi-Zadeh. Romantik des
Schwachsinns. Am Ende ist man glücklich, geistig einigermaßen gesund zu sein.
Neues
Deutschland, 2.September 1993