„Medea“ von Euripides und „Stella“ von Goethe am Deutschen Theater
Berlin, Regie Alexander Lang
Der Frauen Glücksansprüche
Hier erschließt ein Regisseur dem Theater neue Wirkungsmöglichkeiten. Mittels verschiedener Stücke bringt Alexander Lang den historischen Wandel in den Beziehungen der Geschlechter in die Anschauung und in die Diskussion. Seine Wahl mag gewollt erscheinen und sein Leitmotiv „Trilogie der Leidenschaft" trivial, aber schon mit den Werken des ersten Abends gibt er Anregungen zur Genüge (Strindbergs „Totentanz" wird er nachliefern): Mit „Medea" von Euripides (480 bis 406 v. u. Z.) zeigt er den vergeblichen Kampf einer Frau um Glückserfüllung. Mit Goethes „Stella" aus dem Jahre 1775 bietet er eine utopische Lösung für das Glück zweier Frauen. Publikumsandrang zur Premiere im Deutschen Theater, viel Beifall.
Der besondere Reiz: Da sitzen Zuschauer, die mit der liebevoll-ironischen,
zuweilen ins Clowneske treibenden vergnüglichen Art des Regisseurs, Stücke zu
interpretieren, offenbar sehr einverstanden sind. Man kann sich der eigenwilligen,
faszinierenden Sehweise dieses Gauklers des Rationalen tatsächlich schwer
entziehen.
Alexander Lang interessieren soziale Sachverhalte, Auswirkungen von
historischen Entwicklungen und Grenzsituationen auf die zwischenmenschlichen
Beziehungen. In deren theatralisch überhöhter Widerspiegelung sucht er
Typisches. Die Widersprüche in den Menschen wie in deren Verhältnis zueinander
deckt er radikal auf und legt es deutlich darauf an, in den ernsten Vorgängen
auch Heiteres, in den tragischen auch Komisches wahrzunehmen. Solch souveräner,
spielerischer Umgang mit Poesie und Wirklichkeit ist nur möglich von einer Position
geschichtlicher Zuversicht.
Die über die Jahrtausende gültige „Konstante", die
Lang herausschält, nämlich die „Unzerstörbarkeit menschlichen Glücksverlangens"
im Zusammenleben der Geschlechter, die „Leidenschaft der Gefühle im sehnsuchtsvollen
Anspruch nach Harmonie" wird zur Warte. Von ihr sollen im Zuschauerraum heutige
menschliche Qualitäten und partnerschaftliche Beziehungen mit den unterschiedlichen
historischen Beispielen verglichen werden. Dergestalt gewinnt Theater eine
beachtliche mobilisierende Kraft.
Der Regisseur ging also nicht vorrangig den konkreten Stückstrukturen
der Autoren nach, sondern suchte sich aus ihren Werken das heraus, womit er seine
These anschaulich machen konnte. Bei der Tragödie des Euripides holte er die
Begebnisse aus ihrem mythologischen Umfeld, machte diese irdisch, womöglich
etwas klein, doch nachvollziehbar auch dem, der sich in der antiken Mythologie
weniger auskennt. Er verzichtet auf den Chor der korinthischen Frauen und auf
den Flugdrachen des Gottes Helios, mit dem sich die Zauberin Medea dem rachedurstigen
lason entzieht.
So ist denn Katja Parylas Medea weder vordergründig Barbarin und
Zauberin noch die in Leidenschaft Rasende. Sie ist eher — damit durchaus im Sinne des Euripides — ein Muster männlicher Vernunft
und weiblicher Schläue. Schwarz-rot gekleidet, mit hellem Umhang, sitzt sie in
sich gekehrt in einem verliesartigen, zerfallenden Gewölbe (Bühnenbild und
Kostüme: Volker Pfüller). Ihre Empörung über die Verbannung durch Kreon ringt sie
nieder. Zunächst ist sie ganz einfach eine vom Ehemann verlassene Frau, Mutter
zweier Kinder, die vergebens um ihren treulosen Gatten kämpft. lason hatte nur
mit ihrer Hilfe das Goldene Vlies gewinnen können und dankt es ihr schlecht: Er
verläßt sie, heiratet die Tochter des mächtigen Korinther-Königs Kreon. Medea erniedrigt
sich, klammert sich an ihn. lason (Dieter Montag) verspottet sie, tritt sie mit
Füßen.
Nun erst, als sich Medea ihrer Entwürdigung
bewußt wird, sinnt sie auf Rache. Befangen in der Ideologie ihrer Zeit, sieht
sie keinen anderen Weg, als Glauke, die neue junge Frau ihres Mannes, deren
Vater Kreon und ihre eigenen Kinder umzubringen. Aegeus, der kinderlose König Athens,
der ihr Ehe und Asyl bietet, sich spreizend und balzend wie ein Gockel um sie
hüpft (Alexander Lang spielt ihn für den erkrankten Michael Gwisdek), kommt ihr
in schier aussichtloser Lage gerade recht. Die eindringlichen Mahnungen und
Warnungen des Erziehers schlägt sie in den Wind. So nimmt das tragische
Verhängnis seinen Lauf. Beeindruckend, wie Katja Paryla dessen psychologische
und soziale Hintergründe einsichtig macht.
Der Erzieher, der einen Gutteil der Texte des
Chores zu sprechen hat, wird von Christian Grashof sprecherisch hervorragend
als etwas altkluger, doch lebenserfahrener, weise-gewitzter Vertreter des
Volkes gespielt, der das Debakel überlebt. Überzeugend insgesamt die Wandlungsfähigkeit
und Gestaltungskraft der Darsteller im gliedernden, rhythmisch wechselnden
Sprechgesang.
Bei Goethes „Stella" überrascht für den
Moment, daß da kein vierundzwanzigjähriges, liebreizend-sinnenfrohes
Frauenzimmer von ihrem verschwundenen Gatten schwärmt, sondern eine doch schon
reife, sich verzehrende Frau. Wenn sie ihren Kummer hinter allerhand rhetorischer
Selbstsicherheit zu verstecken sucht, wirkt sie so „besitzergreiferisch",
daß man Fernando beinahe zu verstehen glaubt. Margit Bendokat gibt diese Stella
mit einer durchweg sympathischen, leis-sensiblen Selbstironie.
Gudrun Ritters Cäcilie ist etwa im gleichen
Alter. Sie schlägt einen herrlich überlegenen Ton an, wenn sie die Mär von Graf
Gleichen erzählt. Es sind zwei ebenbürtige, kluge Frauen, die da in den duftig
grünen, verwinkelt-weiträumigen Gemächern Stellas um Fernando ringen.
Das Spiel von Goethes erster — glücklich
endender — Fassung des Dramas ist ganz und gar als heiteres Gegenstück zur
Tragödie des Euripides angelegt. Kürzungen und Textumstellungen scheinen
organisch. Der Konflikt treibt rasch voran; die zwei Frauen lösen den
Gordischen Knoten, in den Fernando sich verstrickte: Sie bieten ihm die Ehe zu
Dreien an nach dem Beispiel des Grafen von Gleichen (begraben im Dom zu Erfurt
mit seinen zwei Frauen).
Es ist mit Pfiff inszeniert, wie der Einfall
der Frauen, der Fernando noch schlimmer trifft als der Zwang, sich für eine von
ihnen entscheiden zu müssen, Charmierend und posierend, Verzückung heuchelnd
eilt er von Stella zu Cäcilie, von Cäcilie zu Stella. Dann stöhnt er und windet
sich — nun hat er zwei Frauen am Hals! Langs Regie akzentuiert das
Grotesk-Komische der utopischen Lösung. Sprachlich ausgezeichnet diesmal Roman
Kaminski. Er nimmt die Figur des Fernando direkt, als Prototyp gleichsam des
notwendigerweise eitlen selbstbewußten Mannes, dessen gewinnender Glanz im Feuer
der zwei Frauen schmilzt.
Das ist schon ein bemerkenswerter
Theaterabend, würdig dem Hause in der Schumannstraße. Sowohl das thematische Angebot
lohnt den Besuch als auch die ausgezeichnete theatralische Realisierung. Ein
wenig mehr Zeit als gewöhnlich muß man freilich mitbringen...
Neues
Deutschland, 16. Januar 1986