„Mauser“, „Quartett“ und „Findling“ von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin, Regie Heiner Müller

 

 

 

Die Revolution frisst ihre Kinder

 

Heiner-Müller-Premiere in Berlin. Ein Ereignis wie bei „Lohndrücker" oder „Hamlet"/„Hamlet-Maschine". Sein Werk ragt in der Theaterlandschaft auf wie ein unendliches, von Schluchten und Verwerfungen zerklüftetes Felsmassiv. Mehrere Vulkane scheinen noch tätig. Ständig schweben bizarre Wolken über den Gipfeln. Vergleichbar hilflosen Versuchen, diesen schillernden literarischen Giganten endlich zu definieren. Revolutionäre Avantgarde? Geschichtspessimismus? Linker Manierismus? Traumatische Rebellion gegen Leben und Tod? Fatalistische Selbstzerfleischung?

Der normalverbrauchende Zuschauer muß sich immer wieder neu heranarbeiten. Abhängig auch vom Angebot des Regisseurs. Wenn allerdings der Dichter selbst Hand angelegt hat, wie jetzt am Deutschen Theater, wo er seine Texte „Herakles 2 oder Die Hydra", „Mauser", „Quartett", „Herakles 13" und „Der Findling" sowie Zitatfetzen diverser Kollegen zu einem symbolträchtigen Theaterabend arrangierte, sind kompetente Aufschlüsse zu erwarten über sein theatrales Zeugnis dieser Epoche.

Sie ist unwiderruflich zu Ende, unrühmlich für den Realsozialismus. Müller bestätigt es ausdrücklich. Er parodiert die historische Tragödie bereits, unsentimental, rigoros. Er verschafft aber auch Draufblick, Überblick.

Mit „Herakles 2 oder Die Hydra", zum Auftakt zelebral nach Robert Wilsons Vorbild dargeboten, reißt er den unlösbaren Widerspruch auf. Kronzeuge ist ihm der mythische Held. Dessen titanisches Ringen mit dem Ungeheuer wird zur Metapher für den unentwegten, doch aussichtslosen Kampf des Menschen mit den Unsäglichkeiten des Lebens. Hermann Beyer spricht den Text schneidend scharf ein. Dazu pantomimische Kommentare. Ein Rokoko-Paar kommt im Hintergrund von der Guillotine, die Köpfe unter den Armen. Im Vordergrund löffeln Gestalten Lenins revolutionären Geist aus dessen Büsten.

Sodann „Mauser", das in der DDR verbotene Stück, erzählend vom Töten zum Heil der Revolution. Scholochow hatte in seinem Roman „Der stille Don" auch vom weißen Terror gesprochen in Witebsk. Brecht blieb mit seinem Lehrstück „Die Maßnahme" beim konkreten Fall eines Kollektivs. Müller zeigt, daß die Revolution überhaupt ihre Kinder frißt. Gläubig gebraucht ein Genosse die Mauser-Pistole gegen die Feinde, damit zerbrochen werden alle Joche. Aber er fragt: „Wird das Töten aufhören, wenn die Revolution gesiegt hat?" Da weiß ihm niemand Antwort.

Die Figur, deren Stimme per Lautsprecher aus dem Zuschauerraum kommt (Hermann Beyer), gibt den Auftrag der Partei zurück. Sie kann und will nicht mehr töten. Sie fragt nach dem Menschen - bei Georg Büchner der Schaum auf der Welle der Revolution - und wird selbst hingerichtet. Das Töten hört nicht auf.

Amouröses Zwischenspiel dann: „Quartett" (nach Laclos). Auch ein Spiel vom Töten. Aus Liebe. Aus Haß. Die saturierte feudale Gesellschaft vor der französischen Revolution, vertreten durch die Marquise von Merteuil und den Vicomte von Valmont. Die beiden brillieren in bestialischer Konversation, spielen in dekadenter Selbstbeschäftigung erotische Abenteuer durch (Dagmar Manzel und Jörg Gudzuhn bieten das schauspielerische Glanzstück des Abends). Man bringt sich um, nimmt vorweg, was wenig später die Guillotine erledigt.

Das Töten hört nicht auf. Der Kindertraum vom Sozialismus ohne Panzer ist ausgeträumt. Im „Findling" (nach Kleist) markiert Müller die Perversion der marxistischen Ideale, in Beziehung gesetzt zu mythischen Taten des Wahnsinns („Herakles 13" nach Euripides). Ein Kommunist, ehemaliger KZ-Häftling, zum willfährigen Funktionär degeneriert (Hermann Beyer und Jörg Gudzuhn in doppelter Ausdeutung), unterstützt trotz seiner Erfahrungen das stalinistische Regime. Er denunziert seinen Adoptivsohn, weil der gegen die Mauer anrennt. Leichen aus dem Schnürboden.

Der Autor/Regisseur scheut drastische Bilder nicht. Im Mauer-Areal seines Ausstatters (Jannis Kounelis). Seine kühnen Abstraktionen haben nach wie vor den Hauch großer Wahrheit, aber auch den Ruch gewisser Einseitigkeit. Am Schluß ergreift er selbst das Wort. Doch noch nicht alles szenisch gesagt? Vom ABC spricht er, das nun zu lernen sei, vom Hackfleisch, das gebraucht werde. Was uns aber nicht entmutigen solle.

Viel Beifall. Bravorufe.

 

 

 

Neues Deutschland, 16. September 1991