„Der Mann des Zufalls“ von Yasmina Reza am
Berliner Renaissance-Theater, Regie Harald Clemen
Mondänes VIP-Abteil im D-Zug
Paris-Frankfurt/Main. Von Martin Kukulies für Yasmina Rezas viertes
Theaterstück „Der Mann des Zufalls“ apart auf die Bühne des Berliner
Renaissance-Theaters gebaut. In zwei Sesseln zwei einsame Reisende: Eine
scharmante Dame, Jugendlichkeit ausstrahlend; ein alter Herr, in gepflegter
Mürrigkeit vor sich hinein grübelnd. Rattern des Zuges. Schweigen.
Und das soll einen Theaterabend ergeben?
Bei Yasmina Reza schon! Die 1959 in Paris geborene Autorin vermag der
alltäglichsten Begebenheit dramatisches Leben einzuhauchen, sie bis in alle
Winkel auszuleuchten , all ihre Tiefen auszuloten und mit realistischen Details
wie mit funkelnden Perlen zu spielen. Bewiesen hat sie das vor allem mit ihrer
inzwischen weltberühmten, in 36 Sprachen übersetzten melancholischen Komödie
„Kunst“ aus dem Jahre 1994.
Ihr Einfall hier: Zwei Menschen, eine Frau
und ein Mann, werden in einem Zugabteil nach langer gemeinsamer Fahrt auf sich
aufmerksam, denken übereinander nach. Der theatrale Gag dabei: Die aufkommenden
Gedanken werden zunächst nur für das Publikum geäußert. So ergeben sich
gewissermaßen zwei Spielebenen.
Die Frau hat den renommierten Dichter
erkannt, ihren Lieblingsschriftsteller, den sie verehrt und dessen letzten
Roman „Der Mann des Zufalls“ sie gerade bei sich in ihrer Tasche hat. Sie
möchte nur allzu gern mit dem berühmten Herrn ins Gespräch kommen. Unablässig
sinniert sie, wie das zu bewerkstelligen sei. Er hingegen ist zunächst ganz und
gar mit sich beschäftigt, findet sich und das Leben „bitter“, nörgelt
verdrießlich und gelangweilt, räsoniert über den „alten“ Schwiegersohn mit
„Fistelstimme“, den ihm die Tochter ins Haus gebracht hat, polemisiert gegen
den Freund, der ihn wegen seiner jüngsten literarischen Arbeit kritisierte, und
sagt innerlich dem Schreiben ade.
Alltäglichkeit pur mithin, aber von Yasmina
Reza glänzend beobachtet und wiedergegeben, beziehungsweise meisterhaft
erfunden und niedergeschrieben, insgesamt überaus einfühlsam in menschliche
Seelen und Gedankenstübchen geschaut. Tiefsinnige Lebenswahrheiten, höchst
bemerkenswerte Betrachtungen über Kunst und Literatur und komische Banalitäten
fügen sich in bunter Folge zu einem Bukett erheiternder geistvoller Regsamkeit.
Die Selbstgespräche knüpft die Autorin allmählich immer deutlicher zum Faden,
der die filigrane Handlung hinführt zum gegenseitigen Interesse. Die Dame zur
Überlegung, ob sie nicht vielleicht doch am besten das Buch herausnehmen und
darin lesen sollte, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken. Den Herrn zur Frage,
warum diese Frau neben ihm nicht liest. Schließlich, als sie endlich liest,
warum sie bisher nicht gelesen hat. Und dann die Entdeckung: Sie liest sein
Buch!
Die Nuancen dieser letztlich ungewöhnlichen
Begegnung sublim auszukundschaften, gelang Ilse Ritter (sie) und Mario Adorf
(er) in der Regie von Harald Clemen ganz extraordinär. Reife, subtile
Schauspielkunst. Die grazile Ilse Ritter mit der ebenso grazilen Stimme.
Getragenes, ruhiges Wenden des Kopfes, gezielter Wimpernschlag. Eine seriöse
Dame mit dem Feuer jugendlicher Neugier, schon mal die Füße keck hoch zum Sitz
ziehend, immer wieder verstohlen zum Nachbarn schauend. Der korpulente Mario
Adorf mit der herzhaft sonoren Stimme. Ein gewichtiger Herr tief im Sessel,
ungeduldig, unruhig, aber behäbig sich räkelnd, die Argumente mit dem
Zeigefinger distinguiert kommentierend, schwankend zwischen grüblerischer
Selbstzerfleischung und erwachendem Interesse für die Dame nebenan.
Befreiend geradezu, dass und wie die beiden
denn also doch noch ins Gespräch finden. Und welch Schock für ihn: Die Frau ist
nicht seiner Meinung! Sie kritisiert ihn. Aufgescheucht aus seiner
Egozentrizität will er das Abteil verlassen. Aber er überlegt es sich.
Abgewandt noch, den Kopf über die Schulter wieder zu ihr gerichtet, huscht ein
freundliches, versöhnendes Lächeln über sein Gesicht. Die beiden werden sich
vermutlich noch viel zu sagen haben. Doch da fällt der Vorhang. Und das
Publikum spendet enthusiastisch Beifall, hingerissen vom angenehmen Zauber
menschlicher Kommunikation.
Neues Deutschland, 7. März 2002