„Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte“ von Moritz Rinke in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Regie Stefan Otteni

 

 

 

 

Gaukeleien übers Dasein

 

Wie wird ein junger Stückeschreiber heutzutage gesellschaftsfä­hig? Vor allem darf er keinerlei soziale Bindung erkennen lassen! Ihm würde prompt irgendeine Ideologie vorgeworfen. Auch muss er sich humanisti­sche Utopien verkneifen. Gaukeleien sind gefragt, romantisierende Verklärungen des Daseins, Beliebigkeit auf der Bühne.

Einer der jungen Dramatiker, der seine literarische Nische gefunden hat, ist Mo­ritz Rinke, noch jüngst Redakteur beim Berliner »Tagesspiegel«. Sein Ding: Er mischt Gestalten unterschiedlicher Epochen. Das Schaustück »Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte«, von Stefan Otteni an den Kammerspielen des Berliner Deutschen Theaters inszeniert, zehrt von dem Einfall, einen leibhaftigen Germanen aus dem 13. Jahrhundert auf der Probebühne eines Stadttheaters er­scheinen zu lassen. Wo er Verwirrung stiftet, weil er sich verliebt hat.

Doch was treibt er sonst? Einerseits ist er angeblich vor den Römern geflohen, andererseits hat er irgendwie mit dem zu tun, was draußen abläuft, nämlich eine martialische Revolte zeitgleich mit so et­was Ähnlichem wie dem Weltuntergang. Mithin ist Liebe unter Vorbehalt angesagt.

Aus noch heiterem Himmel steht da also eine seltsam kostümierte und behelmte Gestalt auf einem Kühlschrank und reckt einen Stein in die Luft. Ein Faktotum, das sich als Regieassistent Felix entpuppt, hält den Mann für einen Bewerber, der den Vorspiel-Termin verpasst hat. Als sich der Fremde aber als klassischer Germane Helmbrecht outet, kriegt er Kaffee von Fe­lix und darf Romeo spielen; denn der ei­gentlich vorgesehene Darsteller ist nicht zur Probe erschienen.

Das hat komische Effekte. Durchaus. Substanziell allerdings begibt sich in die­sem »Schauspiel in vier Tagen« mit viel szenischem Leerlauf und noch mehr psychologischem Geschwätz nicht mehr als ein sattsam durchgespielter Dreiecks-Konflikt. Anna, von Nina Hoss als nervös­spröde, gestresste Schauspielerin vorge­führt, verguckt sich in der Balkon-Szene, die der liebesberauschte Helmbrecht karnevalistisch hochputscht, in den stram­men Helden. Hinterher kommt's ihr selt­sam vor. Der Herr Germane bleibt fremd (von Hubertus Hartmann tiefstimmig als hübsch naiv, aber lernfähig vorgeführt); Felix hingegen, der eifersüchtige Regieas­sistent, hat denn doch mehr zivilisatorisch vertrauenerweckenden Umgang (von Guntram Brattia als ehrgeiziger Insider gezeigt).

Im Stuttgarter Theater im Depot hatte man den Text des Kulissen-Reißers be­nutzt, um die Verderbtheit der Theater­leute zu demonstrieren, die, obwohl draußen offenbar alles drunter und drü­ber geht, unverdrossen einen »Weltmo­ment« probieren, die Balkon-Szene aus Shakespeares »Romeo und Julia«. In Münster wird vor allem der edle Germane vorgeführt, dessen elementare, noch nicht von der Zivilisation versaute Empfindungsfähigkeit die Julia-Darstellerin An­na glatt umhaut. Regisseur Stefan Otteni an den Kammerspielen (1989 »Clavigo« am Maxim Gorki Theater) stellt partiell szenisch her, was man gemeinhin Ent­fremdung zwischen Menschen nennt. Und eben durch den »Weltmoment«, wenn sich Anna und Helmbrecht in den Armen liegen, wird sie für eine Nacht mit kurzer Seligkeit scheinbar überwunden.

Im Übrigen verlegt der Regisseur das mysteriöse Geschehen aus einer Goe­thestraße in irgendwo nach Berlin zum Alexanderplatz und in die Friedrichstra­ße. Schlüssiger wird die germanische Auf­erstehung dadurch nicht.

Vielleicht hat es immerhin einen realis­tischen Touch, wie der Autor am Schluss Chaos und gnadenlos hereinbrechende Gewalt als selbstverständlich assoziiert. Arg befremdlich allerdings ist, dass ihn die Ursachen für derlei ungeheuerliche Bedrohung offenbar nicht bewegen. Die unentdeckte Blöße einer Frau ist ihm halt wichtiger.

 

 

 

Neues Deutschland, 16. November 1999