„Das Wunder von Mailand“ von Cesare
Zavattini am Berliner Ensemble, Regie Peter Zadek
Selbst das simple Gute möcht’ bewältigt sein
Dies demonstrative Engagement für die sozial
Schwachen wird die Hautevolee dem Peter Zadek so schnell nicht verzeihen. Da
bringt der erwartungsvoll in der Hauptstadt begrüßte Regisseur zum Auftakt
und womöglich programmatisch „Das Wunder von Mailand", ein linkes Märchen
der 50er Jahre, auf die Bühne des Berliner Ensembles. Er bearbeitete „Toto il
Buono" von Cesare Zavattini, inspiriert durch den Film von Vittorio de
Sica und Cesare Zavattini, und übertrug mit immenser Regieleistung liebevoll und
ausführlich im Detail aufs realistische Theater, was einst neorealistisch
Furore machte.
Zadek wußte um die Tücken. Ein Stoff
aus italienischer Nachkriegszeit. Sentimentale Hoffnung auf eine bessere,
eine sozial gerechte Gesellschaft. Der Sozialismus zwar territorial in der
Ferne, aber siegreich gegen den Faschismus und als reales Ereignis noch ganz
und gar im Kommen. Also künstlerischer Mut, dem Leben ein wenig vorauszueilen:
Sieg der Güte, Belohnung gar aus dem Jenseits für Toto, den guten Menschen
der Barackenleute von Mailand. Doch schon damals - Realismus eben! - scheiterte
der naive Versuch, für Slumbewohner eine primitive, aber idyllische Siedlung
aufzubauen, am Grundbesitzer und dessen Polizei.
Was Mitte dieses Jahrhunderts eine
optimistische Komödie war, ist an dessen Ende nur noch eine pessimistische Farce.
Aber Zadek setzte sich kühn darüber hinweg, wagte eine Wieder- und Neubelebung.
Er verhöhnt nicht. Im Gegenteil. Er stellt sich mit seiner ästhetischen Vision
widerspenstig und nur ein ganz klein wenig ironisch augenzwinkernd gegen die
reale Geschichte und postuliert neuerlich eine romantische Illusion. Die
Illusion, daß irgendwann irgendein gütiges Schicksal den sozial Schwachen
helfen wird. Denn in der Wirklichkeit wird ihnen immer weniger geholfen. Zadek
trotzt der Realität mit Kunst. Ergötzen wir uns also - wenn auch ungläubig,
wenn auch ratlos angesichts vieler Längen - für einen Theaterabend an dem
Einfall, daß es einem Armen, einem Ausgestoßenen kraft außerirdischen
Beistandes für kurze Zeit vergönnt sei, Gutes zu stiften.
Und erinnern wir uns bei der Gelegenheit:
selbst das simple Gute möcht' bewältigt sein! Beispiel: Die Belebung einer
Statue (Gaby Herz als attraktiver Körper, fast zwei Stunden herumstehend!) führt
zur Überraschung, daß das anmutige weibliche Wesen plötzlich seinen eigenen,
gar nicht vorhergesehenen Willen hat. Und wenn Niobes Besitzer und Beschützer,
der redliche Arturo (Jaecki Schwarz), sie lebendig möchte, obwohl sie ihn
verläßt, ist das ein Akt von Selbstlosigkeit, wie er in den 90er Jahren eben
nur noch auf dem Theater vorkommt.
Peter Zadek hat im Bühnenbild von
Wilfried Minks mit überaus sorgender Sensibilität Menschen geformt. Als da unter
anderem sind: Toto (Uwe Bohm), der lautere, treuherzige junge Mann aus dem Volke,
dem seine Mama aus dem Jenseits Zauberkräfte verleiht und den es in unschuldiger
Liebe zum Dienstmädchen Edvige (Deborah Kaufmann) zieht. Rappi (Hermann
Lause), der immer neidische Clochard, der seine Kumpel verrät. Alfredo (Hermann
Beyer), der sarkastische Stadtstreicher, der eine moderne Welt ohne Menschen langweilig
findet. Mobbi (Veit Schubert), der routinierte Börsen- und Bodenspekulant, der
„Hennigsdorf" und „Hoechst" abstößt, aber Niobe an sich zieht. Eva
(Eva Mattes), die vitale Erzählerin und Kommentatorin des Abends.
Die Inszenierung erinnert an beste
Zeiten des Brecht-Theaters im Berliner Ensemble. Sie macht freilich auch gnadenlos
bewußt, wie lange das her ist.
Neues Deutschland, 16. Juni 1993