„Madame de Sade“ von Yukio Mishima
an der Schaubühne Berlin, Regie Yoshi Oida
Sinnieren über Glück
Offenbar gab es eine gewisse Zuneigung des japanischen
Autors Yukio Mishima zu Marquis de Sade, dem
berühmt-berüchtigten Flagellanten und Schriftsteller. Während der eine, der
Begründer des modernen Sadismus, ein skandalerfülltes Leben führte, aber
immerhin vierundsiebzig Jahre alt war, als er 1814 in der Irrenanstalt starb,
endete Mishima, der Schreiber von Romanen und No-Spielen, 1970 im Alter von 45 Jahren durch öffentlich
angekündigtes Harakiri. Er hinterließ ein empfindsames Psychodrama über Ehefrau
Renée, die prominenteste Leidtragende unter de Sades
Opfern.
Das Werk hat jetzt der Japaner Yoshi Oida, Schauspieler unter Peter Brook in Paris, an der Berliner Schaubühne in Szene gesetzt. Nun ist eine Begegnung mit anderen, fremden Kulturen immer ein Gewinn. Die episierende Aufbereitung des Stoffes aus dem vorrevolutionären Frankreich durch Mishima ist von ästhetischer Harmonie. Kein primitives Ausstellen des Sadistischen, sondern verständnisvoller, objektivierender Umgang mit Renée, und zwar als intime Gespräche unter Frauen. Insofern hätte ein sensibler Realismus, nicht unbedingt französisches Milieu, so doch entsprechende Gebärde und Etikette, ein sozial faszinierendes Spiel ergeben können. Zumal die Schaubühne ihr in Berlin einmaliges Frauen-Ensemble aufbot, die Damen Tina Engel, Corinna Kirchhoff, Imogen Kogge, Jutta Lampe und Libgart Schwarz, die Aristokratinnen sozusagen spielend zu kreieren vermögen.
Der Regisseur aber entschied, die Gestalten
aus ihrer Umwelt zu lösen, sie
formal ins Zeremonielle des uralten japanischen No-Theaters
einzubinden. Die Hauptbühne ist aufgebaut, zumindest deren Plattform
(Ausstattung Tomio Mohri),
links und rechts davon Bühnenstege, auf denen die Figuren langsam heranschlurfen. Zwar tragen sie keine Masken, aber weite,
den Körper verhüllende prunkvolle Mäntel. Wenn sie sprechen, wiegen sie ihre Köpfe
sanft und seltsam fremdartig. Das Gehabe verliert sich zwar, natürliche
Regungen der Schauspielerinnen setzen sich durch, doch das kapriziös Rituelle
bleibt. Es hat mit dem Gegenstand, der verhandelt wird, recht eigentlich nichts
zu tun.
Madame de Montreuil
(Jutta Lampe) kämpft über Jahre um das Glück ihrer Tochter. Sie will, daß Renée (Corinna Kirchhoff) sich von ihrem im Gefängnis
sitzenden Ehemann, einem »Ungeheuer an Unmoral«, trennt. Die junge Frau
klammert sich an paradoxe Ehe-Maximen (»Für mich ist Glück, Nacht für Nacht von
meinem Gatten verlassen zu werden«). Sie hält zu ihrem Mann, obwohl sie weiß,
wie er sie hintergeht, daß er sogar bei ihrer
jüngeren Schwester Anne (Imogen Kogge), einem
natürlichen Weibchen, seine Lust sucht. Man erfährt, daß
Renée an sadistischen Ausschweifungen (»Der Kleine-Mädchen-Skandal«, 1774)
teilgenommen hat. Da sie die perversen Liebes-Praktiken verteidigt, vermutet
man, daß sie ihrem irren Sadisten gern zu Willen ist.
Überraschung aber: Als de Sade endlich frei kommt, ist sie entschlossen, dessen
»Kathedrale des Lasters« zu verlassen und hinfort als Nonne zu leben.
Absage an pseudonatürlichen Lustgewinn? Dafür
Flucht ins Kloster? Heutzutage fragt man nicht unbedingt nach der Fabel eines
Dramas. Doch wozu dann Theater? Wegen moderat-lasziver Dispute? Immerhin wird
das delikate Thema aus unterschiedlicher Sicht ausführlich behandelt. Wobei
jedem Argument Berechtigung zuzukommen scheint. Entwicklungen finden eher
verborgen statt. Aus trotzigem Festhalten an einer glücklosen Ehe wird Renées Absage an ein freies Leben just in revolutionärer
Zeit. Aus überzeugtem Widerstand wird erschöpfte Hilflosigkeit der Mutter. Aus
sinnenfroher Selbstbewußtheit der Gräfin de
Saint-Fond (Tina Engel) werden Verzweiflung und Tod einer Dirne. Baronin de Simiane (Libgart Schwarz) bleibt
die Ergebene der Kirche. Allein Anne (Imogen Kogge),
die junge Aristokratin, scheint Zeichen der Zeit verstanden zu haben. Sie will
nach Venedig türmen.
Suche nach einer neuen Spiritualität? Eher
trostlose Warnung vor allzu forscher Aktivität.
Neues Deutschland, 10. Dezember 1996