„Macbeth“ nach Shakespeare von Heiner Müller an der
Berliner Volksbühne, Regie Heiner Müller und Gingka Tscholakowa
Fatalismus hinter faszinierenden Bildern
Als Heiner Müllers „Macbeth" nach Shakespeare vor rund
zehn Jahren am Brandenburger Theater uraufgeführt wurde, widersetzte sich der
Autor dem Vorwurf, das Stück sei sadistisch. Er argumentierte, sadistisch sei
die Wirklichkeit gewesen, die er beschrieben habe. Damals konnte er nicht
ahnen, daß es, 1982, kurz vor der Aufführung an der Berliner Volksbühne, das
Massaker von Beirut geben würde. Also anscheinend und obenhin gesehen hat sich
auf dieser Welt seit mittelalterlicher Barbarei nichts geändert. Menschen
werden abgeschlachtet. Müllers Losungen scheinen zu stimmen: „Der Mensch — ein
Dreck" und „Die Welt hat keinen Ausgang als zum Schinder". Jedoch:
Was soll uns Theater, das trotz theatralischer Überhöhung über Geschichte
letztlich schlechter informiert als aktuelle Fernsehbilder? Auf der Bühne zu
deklarieren, lauthals und obendrein mit literarischem Anspruch, es ändere sich
nichts auf dieser Welt, „mit Messern in das Messer" sei „die
Laufbahn", ist so primitiv wie halbwahr. Und es ist anmaßend, mit solcher
Auffassung den großen Engländer zu bemühen.
Shakespeares Tyrann Macbeth scheitert in einer Zeit, die sich anschickt, den Humanismus zu gebären — als Programm zunächst, aber schon mit beträchtlicher ideologischer Ausstrahlungskraft Der Krieg der Anti-Macbeth-Koalition ist, wenn auch mit ausländischer Unterstützung geführt, ein Volkskrieg gegen Tyrannei. Zwar kommt es zur Wiederherstellung alter Macht-Verhältnisse, aber die Art und Weise, wie Malcolm, der neue König, seine Regentschaft antritt, spricht für humanistische Aspekte seines Regierens, signalisiert mögliche historische Perspektive. Gerade diese operiert Müller aus Shakespeare heraus. Bei ihm ist der neue König ein greinender Kretin, dessen allererste Amtshandlung darin besteht, seinen Mitstreiter Macduff umbringen zu lassen. Heiner Müllers Macbeth scheitert, weil auf dieser Welt ganz mechanisch eine Tyrannei die andere auffrißt. So zuverlässig einfach ist das nämlich in der Geschichte!
Seine fatalistische Weitsicht versteckt der Schöpfer des
Spektakels als Regisseur (mit Ginka Tscholakowa) hinter einer flirrenden
Spielweise. Da ist viel Phantasie investiert. Ohne Zweifel! Und das läßt sich
so an: Auf der Bühne (Hans-Joachim Schlieker) ist sehr wirklichkeitsgetreu das
weiträumige Geviert eines Innenhofes montiert, Torbogen, Kellerfenster,
verrotteter Putz, durchhängendes Kabel, kaputte Scheiben. Links steht eine
gefesselte nackte Schaufensterpuppe herum. Die Brüste sind demoliert. In der
Mitte befinden sich zwei gegenübergestellte Matratzen. Dahinter eine
Teppichstange. Dazwischen ein hochmontierter Sessel aus Omas guter Stube. Des Macbeth Thron. Und in dieser abstrusen
Szenerie für ein sich historisch gebärdendes Stück reiht sich nun im Verlaufe
des Geschehens eine Merkwürdigkeit an die andere. Lady Macbeth zum Beispiel
spielt zunächst Kinderhopse und mit einem Fußball. Rechts vorn taucht ab und zu
eine Telefonzelle auf. Die Hexen geistern glatzköpfig vor großen Spiegeln in
der Orchesterwanne. Wechselndes Licht, Wasser, Blut, Sand, Schnee, Jauche und
Musik kommen zum Einsatz. Gelegentlich gerät eine Cellistin mit auf die Bühne.
So geht das fort. Fast vier Stunden lang. Das alles mag im ersten Moment einen
Anflug von Interessantheit haben und wie Avantgardismus ausschauen, ist aber im
Grunde der Ausverkauf theatralischer Mittel. Brechts Begriff der Verfremdung
wird ad absurdum geführt, schlägt um in Befremdung. Macbeth agiert dreifach.
Dieter Montag kraftmeierisch, Hermann Beyer marktschreierisch, Michael Gwisdek
dämonisch. Clowns sind beigemischt, Frauen spielen Männerrollen, einige
Darsteller sind doppelt besetzt. Ein Verwirrspiel. Am besten wohl
pluralistisches Theater genannt, der Versuch, die Welt als chaotische
Panoptikums-Vielheit nicht aufeinander zurückführbarer Wesenheiten
darzustellen, sie dennoch grotesk nebeneinander zu fügen, Zusammenhänge zu
behaupten, ästhetizistisch aufgeputzt, widersinnig, albern.
In dieser monströsen Deklarations-Show geht unter, was u.
U. Entwicklung andeutet, und zwar beim Autor. Er hält sich als Regisseur an
seine Texte. Aber gegen Schluß bringen nicht Soldaten den Macbeth zur Strecke,
sondern jetzt gerät er in die Hände von Bühnenarbeitern, die im Begriff sind,
den ganzen Theaterplunder abzuräumen. Sie köpfen Macbeth mal schnell und
beiläufig. Eine sehr flüchtige Szene nur, aber sie könnte Bedeutung gewinnen,
wenn es Heiner Müller eines Tages gelänge, die Bühne wirklich leerzufegen von
aller absurden Mache und zu realistischer Substanz zurückzufinden. Ein
Lichtblick noch: Corinna Harfouch als Lady Macbeth. Sie ist auffällig präsent,
agiert mit naiver Unschuld, Bösartigkeit knapp und kalt setzend. Das ist von
schöner Faszination. Aber sie kann den Abend nicht retten. Viele Fragen.
Volksbühne? Volkstheater? Wir sind derzeit an diesem Ort mit dieser Aufführung
weit davon entfernt.
Junge
Welt, 29. September 1982