„Lysistrate und die NATO“ von Rolf Hochhuth
am Volkstheater Rostock, Regie Hanns Anselm Perten
Wenn sich Frauen verweigern
Der unerschrockene Aufklärer Rolf Hochhuth,
in Basel lebender Autor des 1963 uraufgeführten, in 26 Ländern gespielten und
in 17 Sprachen übersetzten „Stellvertreter", hat sich mit politischer und
poetischer Konsequenz neue Dimensionen erschlossen. Wenn 1963 Erwin Piscator
den „Stellvertreter" einen „der wenigen wesentlichen Beiträge zur Bewältigung
der Vergangenheit" nannte, so verdienen Hochhuths jüngste dramatische
Arbeiten — „Guerillas" (1970), „Die Hebamme" (1972) und „Lysistrate
und die NATO" (1974) — wesentliche Beiträge zur Bewältigung der Gegenwart
genannt zu werden.
Des Dichters Konsequenz führt ihn zu klarerem
Engagement für die Menschen, welche allein die reale Kraft darstellen, die
Probleme dieser Welt menschlich zu lösen. Deren Position beziehend attackiert
er den Hauptfeind der Völker, den amerikanischen Imperialismus; mit „Guerillas"
noch utopisch, mit „Lysistrate" realistisch. Das bringt ihm infame
Kommentare ein, aber auch denen näher, die dem streitbaren Humanismus eine
reale Heimstatt errichten. So ist das Interesse des Volkstheaters Rostock für
Hochhuth weder platonisch noch konjunkturbedingt, entspringt vielmehr der
zutiefst humanistischen Position und Funktion sozialistischen Theaters.
Hochhuth studiert die Wirklichkeit
mit Akribie. Dann erfindet er — das erworbene gesellschaftliche Wissen zu phantasievoller
Verwesentlichung nutzend — seine originelle, zu politischer Brisanz
verdichtete Geschichte. Die hineinverflochtenen klugen, mitunter auch
altklugen Anmerkungen sind allerdings nicht immer das, was man theatergerecht nennen
möchte. Und seine Phantasie produziert häufig ausgesprochen ungezügelt,
verliert sich im Nebenbei. Auch „Lysistrate und die NATO" litt darunter. Die
Neufassung, die das Volkstheater Rostock spielt, zeigt den Autor um
theatergerechte Konzentration bemüht. Und Regisseur Hanns Anselm Perlen hat eben
dieses Bemühen umsichtig unterstützt. Der Autor siedelt Aristophanes' Ehestreik
im von den Obristen bedrohten Griechenland an und richtet ihn gegen den möglichen
Krieg, konkret gegen die Verwandlung einer friedlichen Insel in eine
NATO-Basis. Geschäftstüchtige Insel-Bauern möchten ihr Land für militärische
Zwecke verkaufen, aber die Frauen sind dagegen, und um sich durchzusetzen,
verweigern sie sich ihren Männern, angeführt von der Abgeordneten Dr. Lysistrate
Solidis.
Hochhuth, der in der Komödienform
„Dinge über die Rampe bringen" möchte, „die man in ernster Form dem
Publikum gar nicht anbieten darf", meistert die gewählte Form in den
Dialogen, weniger in der Verknüpfung der Begebenheiten. Die komische Substanz der
mißlingenden Versuche der Männer, ihre bettflüchtigen Frauen heimzuholen, nutzt
sich ab. Und die Rangelei der Lysistrate mit dem Minister a.D. um Korruption
und Investition ist für die Komödie wenig trächtig. Aber Hochhuth versteht,
relative Willkür in Sachen Fabel mit reicher Zutat an burlesken Vorgängen und
sinnenfreudigen Disputen pikant zu drapieren. Perten sorgt dafür, daß diese
Zutat, geschmackvoll-amourös serviert, die poetische Idee nicht verdeckt,
sondern aufdeckt. Als wesentlich wird schaubar das im ungewöhnlichen Kampf
aufkommende emanzipierte Selbstbewußtsein der Frauen und ihr Erfolg — so
bedroht er ist, denn zur Stunde, da die Frauen auf der Insel siegen, putschen
in Athen die Obristen. Gegen Faschisten wird friedlicher Ehestreik wenig
ausrichten, notwendig wird organisierter illegaler Kampf, in den sich
Lysistrate begibt, neue Verbündete gewinnend selbst unter den soeben Besiegten.
Das heterogene Spiel entfaltet sich
im praktikablen, die Kargheit griechischer Berge assoziierenden Bühnenbild Falk
von Wangelins: Lysistrates Vaterhaus, Domizil der Frauen, ein Gasthof mit Sauna,
Weinkelterei und allerhand Zimmern und traulichen Plätzchen. Kalonike vor
allem, die Kellnerin, und Stavros, der Knecht, wissen's zu schätzen. Das klassische
Dienerpaar greift bei Hochhuth nicht handlungsbestimmend ein. Perten jedoch
läßt Stavros, betont durch eine Maske, sarkastische Sentenzen des Dichters über
die Figuren sprechen, und rückt damit plebejische Positionen ins Zentrum. Rita
Feldmeier gibt eine muntere, sinnenlustige Kalonike, Egon Brennecke einen
rustikalen, schenkelflinken Stavros. Amüsant sein freundlich begehrender
Satyrtanz um die stripteasende Kalonike. Hier wie bei chorischen Auftritten der
Frauen oder der Männer beweist sich die stilsichere Hand des chilenischen
Choreographen Patricio Bunster.
Die Titelfigur hat der Autor mit
politisch rationaler Abgeklärtheit wohl bedacht,
aber darüber die Frau vernachlässigt. Christine van Santen gibt die Frau,
antike
Erhabenheit mit emanzipierter Weiblichkeit verschmelzend. Bemerkenswert Erhard
Schmidt als fülliger Tsifras, Bettina Mahr als gestisch konkrete liebesagile Ariadne,
Karl-Heinz Fischer als eifernder Koumantaros. Plastizität ihrer Figuren erreichen
auch Katrin Stephan (Popadia), Hannelore Seezen (Tina), Hermann Wagemann
(Glarakis), Manfred Schlosser
(Babalis) und Ulrich Voss (Dimitrios). Peter Zilles bleibt dem Popen die Doppelbödigkeit
schuldig. Das Ensemble arbeitet engagiert und mit sichtlichem Vergnügen. Ein
verdienter, schöner Erfolg.
Theater der Zeit, 3/1975