„Der Lohndrücker“ von Heiner Müller am
Deutschen Theater Berlin, Regie Heiner Müller
Ofenbauer Balkes Feuerprobe – realistisches
Theater in Aktion
Am Deutschen Theater in Berlin inszenierte der Dramatiker Heiner Müller ein eigenes Stück, den 1958 in Leipzig uraufgeführten „Lohndrücker". Er bewerkstelligt dies mit einer kaum zu beschreibenden Fülle ausdrucksstarker, sinnreicher Bilder.
Verblüffend zunächst die Pedanterie, mit der
der Autor als Regisseur einzelne Sentenzen in zeigefingernder darstellerischer
Gründlichkeit zelebrieren läßt. Da ist er ganz der insistierende Didaktiker des
aufklärerischen Agitprop-Spiels der fünfziger Jahre. Doch zugleich, und das
macht die eigentliche Faszination des Abends, entdeckt uns dieser bekennende
Realist die unverbrauchte Aktualität seines dreißig Jahre alten Textes. Er
weitet die Vorgabe zur szenischen Collage, gibt seinem rationalen Stück — bis
auf wenige Zutaten überzeugend — eine zeitgenössisch opulente theatralische
Gestalt.
Schon Bertolt Brecht (Büsching-Fragmente),
Karl Grünberg („Der Mann im feurigen Ofen") und Eduard Claudius („Vom
schweren Anfang" und „Menschen an unserer Seite") hatte interessiert,
was Heiner Müller 1956 für die Bühne aufarbeitete:
1949, wenige Monate vor Gründung der
Deutschen Demokratischen Republik, überholte Hans Garbe, ein erfahrener
Feuerungsmaurer, mit einigen unerschrockenen Arbeitern einer Spezialbrigade bei
achtzig bis hundert Grad Temperatur einen Ringofen, ohne daß die Produktion eingestellt
werden mußte. Das war eine bahnbrechende, eine beispielgebende Leistung. Das
Bewußtsein, nicht mehr für die Kapitalisten, sondern für den Aufbau einer
neuen, friedlichen Gesellschaft zu arbeiten, hatte Garbe zu seinem selbstlosen
Einsatz motiviert. Ärgsten Widerständen trotzend machte er das unmöglich
Scheinende möglich. Er riskierte und bestand die „Feuerprobe" einer
historisch neuen, einer freien Arbeitshaltung.
Eben hier, an diesem epochalen, bis in unsere
Zeit gültigen Fabelpunkt, wo sich konkrete geschichtliche Wirklichkeit und
interpretierendes Theater schlüssig treffen, setzt der szenische Spielmacher
Heiner Müller an. Zwar liefert er wie ehedem lakonisch-drastisch den
historischen Sachverhalt, das bescheidene Leben des unbescheiden kämpfenden
Ringofenbauers, der bei ihm Balke heißt; gleichzeitig aber reichert er die
episch-knappen Vorgänge an, bemüht er Umfeld und Hintergründe, um die der
konkreten Arbeitertat innewohnende menschheitliche Dimension theatermäßig zu
versinnlichen.
Als Balke sich anschickt, das risikovolle
Werk im glühenden Ofen zu beginnen, läßt Müller den Gesang der Geharnischten
aus Mozarts „Zauberflöte" einspielen. Er setzt damit nicht einfach einen
emotionalen Höhepunkt. Er assoziiert das klassische Humanitätsideal einer freien Menschengemeinschaft.
Der an dieser Stelle besonders auffällige,
zutiefst humanistische Zuschnitt der Inszenierung wird vom Bühnenbild des
Wieners Erich Wonder ganz wesentlich unterstützt. Bestimmend ist dessen beredter
szenischer Grundeinfall: Die gleichsam eine archaische Umbruchszeit
umschließenden Wände des dunklen Bühnenguckkastens sind im Hintergrund leicht
angehoben und geben, einen angemessenen Spalt breit, den Blick frei auf ein im
Sonnenlicht liegendes Stadtpanorama, auf das wiederaufgebaute Berlin des Jahres
1988. Das ist von traumhaft romantischer Schönheit. Dergestalt ist die lichte
Zukunft als reale Gewißheit ständig im Spiel.
In dieser komplexen Art, mittels Musik und
Bühnenbild, durch Anleihen auch bei Piscator (Filmeinblendungen von einem
flammenden Ätna-Ausbruch) und Brecht (maßvoll verfremdete erzählende
Spielweise) führt Heiner Müller großes, totales Theater vor. Die schroffe,
Widersprüche hart setzende und lösende poetische Stimmigkeit mag sich hier und
da nicht ganz in Ubereinklang befinden mit wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber
das betont unpathetische Heroisieren des Helden, das objektiv-sachliche
Reflektieren des revolutionären Handelns dieses in das Morgen aufbrechenden
Balke und der Konflikt mit dem konservativen Zaudern seiner noch in der
Unterdrückten-Ideologie befangenen Arbeitskollegen — das ist für mich
sozial-realistisches Theater in Aktion. Konstruktiv und kritisch gibt es
Impulse für den heutigen Tag, schärft es unseren Sinn für überwundene und für
zu überwindende Schwierigkeiten und Schwächen.
Bertolt Brecht, an den zu erinnern in diesen
Tagen nahe liegt, hatte gefordert, die Erbauer der Gesellschaft im Theater zu
ergötzen mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt. Müller
führt das mit ebenso eigener wie eigenwilliger Handschrift exemplarisch vor.
Das Vergnügen pendelt bei ihm zwischen bestätigendem Lachen (hier etwa das
eingeschobene, von Margit Bendokat keck-ironisch gesungene ,,Lied von der
HO" von Joachim Werzlau) und beißendem Sarkasmus (etwa der eingefügte, von
Johanna Schall und Ulrich Mühe minutiös vorgetragene Text „Der Horatier"
von Heiner Müller). Er organisiert Unterhaltung als elementaren,
unverzichtbaren Bestandteil des Theaterspielens, als lustvolle Aufforderung,
die „Feuerproben" des Lebens immer wieder neu zu bestehen.
Insofern, wahrscheinlich im Banne der
Zugkraft der Geschichte wie der Ausdruckskraft des von ihm selbst mobilisierten
ästhetischen Materials, korrigiert der Regisseur Müller bewußt oder unbewußt den Autor Müller. Zum Beispiel, was seine Auffassung von den
Arbeiterfiguren des Stücks betrifft, die er im Programmheft äußert. Sie sind
auf Müllers Bühne, wo sie völlig legitim als reine Kunstfiguren agieren,
dennoch von vornherein lebendige Menschen, die nicht aufs
Biologisch-Kreatürliche reduziert sind. Jedenfalls inszeniert das der
Dialektiker in gebotener Wahrhaftigkeit. Der Aufbruch aus dem Reich der
Notwendigkeit in das der Freiheit — so macht er schaubar — ist zwar
entbehrungsreich, langwierig und widerspruchsvoll, doch eben ein Aufbruch der
Masse der Proletarier zu bewußt kollektiv handelnden Werktätigen.
Der Regisseur bedient sich der Darsteller des
homogenen Ensembles des Deutschen Theaters typgerecht und einfühlsam. Den Balke
besetzte er mit Dieter Montag. Dieser Schauspieler gibt mit schlichtem Gestus
einen ganz und gar alltäglichen Arbeiter, einen rothaarigen, unscheinbaren Mann
mit schmuddeliger Aktentasche, der kaum eine besondere Biographie zu haben
scheint, der Szene für Szene aus der Anonymität heraustritt und individuelle
Züge bekommt, selbstbewußt und kräftig wird. Dieser Balke ist zwar immer auch
eine Kunstfigur, aber stets realitätsnah. Seine Diktion ist natürlich,
zupackend, sein Spiel in einem hohen Grade identifikationswürdig.
Stärker abgesetzt und differenziert
verfremdet sind die Arbeitskollegen des Balke: Zemke (Horst Hiemer, einst der
Balke der Leipziger Uraufführung), Geschke (Thomas Neumann), Karras (Roman
Kaminski), Krüger (Horst Weinheimer), Bittner (Harry Pietzsch), Kolbe (Frank
Lienert), Lerka (Martin Trettau) und der Brillenträger (Jörg-Michael Koerbl als
Gast). Deutlich abgehoben ist der aalglatte, abgefeimte Stettiner (Ulrich
Mühe).
In eigener, gelegentlich wohl überbetonter
Sphäre operiert der Direktor, von Hermann Beyer (als Gast) als ein vielfach
Geprüfter, ein In-sich-Zurückgezogener, aber unverdrossen Kämpfender markiert.
Schorn, dem Parteisekretär, gibt Michael Gwisdek zurückhaltende
Verbindlichkeit, Ausdauer und zähe, sich selbst überwindende Härte. Dem BGL-Vorsitzenden
Schurek verleiht Jürgen Huth Züge eines unsicher, redlich Taktierenden. Wendig
unverfroren posiert das Fräulein Matz von Johanna Schall. In diversen kleinen
Aufgaben exponieren sich Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst
Busch". Als sachlich-informativer Sprecher meldet sich von Szene zu Szene
der Autor.
Das Premierenpublikum spendete lang
anhaltenden Beifall.
Neues
Deutschland, 2. Februar 1988