„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, „Die Mutter“ von Maxim Gorki – Gastspiel des Theaters an der Taganka Moskau, Regie Juri Ljubimow

 

 

 

 

Theatralik mit Herz

 

Entwicklungen am Theater provozieren seine Souveräne zumeist aus Protest — weniger gegen eine Theorie, in der Regel gegen eine etablierte Machart. Das war so bei Stanislawski. Bei Brecht. Bei Piscator. Bei Meyerhold. Bei Wachtangow. Das kann politische Ursachen haben. Aber auch und zugleich theaterästhetische. Und bei Ljubimow? »Für mich war das Wichtigste die Ablehnung des ausschließlichen Monologs des psychologisch-milieugebundenen Theaters, der Protest gegen eine Einengung der Vielfalt der theatralischen Formen auf nur eine ihrer Spielarten«, erklärte er 1974. Bereits ein Jahrzehnt früher hatte er sich für die Möglichkeit begeistert, »zu einem Stück nicht nur einen gedanklichen, sondern auch einen rein theatralischen, visuellen Zugang zu finden.« Sentenzen. Gewiß. Mittlerweile aber die eines berühmten Theatermannes. Sie zu lesen, machte schon lange neugierig. Nun also hatten wir hierzulande Gelegenheit zu sehen, welche Machart yon Theater er damit herstellt.

Brechts »Guten Menschen von Sezuan« hatte Ljubimow 1963 mit Studenten der Stschukin-Schule inszeniert. Ein Jahr darauf wurde er Chefregisseur des Theaters an der Taganka. Und die umstrittene »Sezuan«-Inszenierung wurde programmatisch Bestandteil des Spielplans. Umstritten? Sie war in der Tat eine Herausforderung an das psychologisch-milieugebundene Theater. Sie ist es geblieben. Auch für das sozial konkrete Theater. Sie polemisiert in aller Frische gegen Einengung der Vielfalt. Sie ist das praktische Angebot einer neuen theatralischen Eigenwilligkeit. Sie benutzt die Stückvorlage nicht, um poetische Idee, Mentalität und Stil des Dichters sensibel aufzuspüren, sondern um die eigene Auffassung von Theater daran auszuprobieren. (Ljubimow: »Wir machten einfach bei einem Stück halt, das uns die Möglichkeiten gab, jene Gedanken über das Leben und — was sehr wichtig ist — über das Theater auszudrücken, die mich und meine Schüler bewegten.«) Ausprobiert wurden Möglichkeiten eines »synthetischen Theaters«, worunter eine »freie und organische Verbindung von Theater, Musik, Pantomime, Exzentrik und so weiter« verstanden wird. Es soll dies ein »zeichenartiges« Theater sein, das bewußt bei den Karnevalsfesten, beim russischen Balagan Anleihen aufnimmt, sich aber auch vom Autor stimulieren läßt. (Ljubimow: Brecht »verlangt die Fähigkeit, sehr hart, nüchtern und genau den Dialog zu führen, verlangt eine exakte plastische Lösung, erweitert die technischen Möglichkeiten der Spielweise des Schauspielers...«)

Heraus kam »Straßen-Theater« im Theater, verkündet am linken Bühnenportal durch eine Schrifttafel. Das Geschehen läuft mit außerordentlicher Lockerheit und Unmittelbarkeit ab, als werde es soeben mit großem Vergnügen zum ersten Mal produziert. Ein »Straßen-Theater« allerdings, das keine sonderlichen Agitprop-Ambitionen auf den politischen Aufklärer Brecht hat. Das sozialistische Publikum kennt sich ohnehin aus in den vom Stück vorgebrachten sozialen Problemen. Gespielt wird das Liebes-Schicksal der Shen Te. Und das mit Herz und Leidenschaft. Die epischen Texte Brechts werden in dramatische Verse getrieben. Sinaida Slawina — mit tragischem Grundton — steigert die Shen Te zu hymnischer Leidenschaft, wenn sie ihrer Liebe zu Sun Ausdruck gibt. Dabei gewinnt die Sprache einen eigenständigen ästhetischen Reiz. Für uns seit Brecht ungewohnt. Ein Reiz, der stets mit der theatralischen Gebärde korrespondiert. Da ist die Auseinandersetzung zwischen Shen Te und Sun (Wladimir Wysozki) auf der Hochzeit. Sie ist zunächst in Diktion und Gestikulation sachlich knapp auf das informative Abhandeln des Textes reduziert, steigert sich dann aber zu furioser Wucht, dabei Sun als barsch, rauh und roh-eigensüchtig entlarvend. Die Erkenntnis Shen Tes schließlich, nicht geliebt zu werden, wird zum großen tragischen Aufschrei gequälter Kreatur, von S. Slawina vital, rein und ursprünglich eingebracht. Nur noch überboten durch die herzergreifende Klage Shen Tes, wenn die Götter sie erbarmungslos im Stich lassen. Damit wird die Fabel im letzten Moment — bisher vorwiegend in ihrer allgemein-menschlichen Bedeutsamkeit bedient— auch voll in ihrer sozialen Tiefe erfaßt und erlebbar. Das ist auffällig: Die Fabel wird mit der psychologisch-gebundenen Spielart erzählt.

Andere Spielweisen fügen sich nahtlos ein und geben dem Bühnengeschehen eine Dimension, die mit Begriffen wie Musikalische Komödie, Musical oder Revue nicht im entferntesten zu fassen ist. Hier hat die Inszenierungskunst Ljubimows eine neue, eigenwillige Mischung von Spielweisen und Genres fixiert, die durch ihre unkonventionelle Affinität zu Brecht in Atem hält. Leider ist nicht Raum, die theatralische und visuelle Vielfalt der Mittel und ihren souveränen Einsatz zu beschreiben (siehe auch TdZ 3/1976). Ein paar Anmerkungen: Noch eben tragische Leidenschaft der Shen Te, und schon, ohne Übergang, ist da gefällig-muntere Akkordeon-Musik. Heiter-trivial die Lieder, mit theatralischem Esprit serviert. Hinreißend die freundlich-legere Einfalt der Götter, ganz und gar zu irdisch-stoischen Bürokraten degradiert. Sehr genau in der Verwandlung Tatjana Shukowa als Frau des Teppichhändlers: ein kleines, gebeugtes, scheues, liebes, ihrem Mann selig ergebenes Frauchen. Der Teppichhändler hingegen, ansonsten einer der Musiker, überhaupt nicht verwandelt, nur kräftig in seiner treuherzig-lakonischen Anwesenheit. Der Großvater, von einem jungen Darsteller mit einfachsten Mitteln äußerlich hergestellt: mit tapsigen Schritten, vorangetrieben durch den vornüber kippenden Oberkörper, immer wieder abgefangen durch kurzes Aufstützen des Spazierstockes. Pantomimische Mittel beim agilen, trotz sozialer und leiblicher Not stets frohsinnigen Wasserverkäufer Wang (Waleri Solotuchin) und beim bieder-geschäftigen Barbier (Igor Petrow). Karg das Bühnenbild, darin aber plastische, bewegte Abläufe am laufenden Band, virtuose, unterhaltsame Theatralik.

Eigenwillig auch die »Mutter«-Bearbeitung nach Gorki. Keine Lektion. Keine Aufklärung. Blutvolles Theater erhebt die Mutter zur großen tragischen Gestalt, assoziiert antike Erhabenheit, klassische Strenge. Dies wird mit mobilen theatralischen Mitteln von eindringlich-anschaulicher Plastizität erreicht. Die Bearbeiter und Regisseure J. Ljubimow und B. Glagolin wählten eine Spielweise, die die Beziehungen der Figuren rein theatralisch spiegelt, in symbolisch stilisierten Abläufen soziale Konflikte schaubar machend. Und zwar vorwiegend durch szenische Arrangements zwischen Gruppierungen und Figuren. Licht-Effekte unterstützen, heben die Räumlichkeit des Geschehens hervor. Rotes Licht schafft Bedeutungen. Das Bühnenbild (D. Borowski) ist nüchtern, auf ein Zeichen gebracht: Die Wand eines Fabrikgebäudes im Hintergrund. Eine Dampfpfeife und eine Laterne als Akzente.

Die Begebenheiten sind zu außergewöhnlicher Wirksamkeit verdichtet. Zunächst wird die Allgegenwärtigkeit des zaristischen Militärs vorgeführt. Hartes Exerzierreglement, aufgepflanzte Bajonette. Aufmärsche, manchmal sich totlaufend. Formationen postieren sich rechts und links der Bühne, und im vom Militär umschlossenen Raum tanzen die Arbeiter mit ihren Frauen, Bräuten und Freundinnen einen ausgelassenen Reigen. Gelegenheit, die Personen und ihre Beziehungen zu exponieren. Die Mutter (Sinaida Slawina) wird durch einen von der Rampe steil in den Rang gezogenen Licht-Vorhang in ein besonderes, verklärendes Licht gestellt. Der Vater (Viktor Sternberg) taucht betrunken aus dem Hintergrund auf und stürzt mit einem gewaltigen Knüppel über die Mutter her. Pawel (Iwan Bortnik) wirft sich mit einem großen Hammer resolut dazwischen. Übergangslos, ohne Umbauten, in rascher Abfolge, reiht sich nun Szene um Szene zur Komposition einer historischen Tragödie: Nilowna, die aus dumpfer Untertänigkeit am Kampf des revolutionären Sohnes sich aufrichtende Proletarierin, tragisch endend in dem Moment, da sie sich bewußt gegen den Zarismus erhebt. Der zunächst wehklagende Grundton der Mutter wandelt sich in das stürmisch-leidenschaftliche Pathos der Anklage. Mit großer szenisch-theatralischer Intensität ist das Handeln der Mutter mit dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse verwoben.

Eindrucksvolle, gleichsam historische Prozesse spiegelnde Spiel-Arrangements prägen sich ein. Da ist der chorische Auftritt der noch im Untergrund kämpfenden Genossen: auf dunkler Bühne sind nur ihre Gesichter beleuchtet, auftauchend aus der Anonymität, Anspruch anmeldend. Ihr Gesang (dramaturgisch die Exposition abschließend) wird zum Fanal des Kampfes. Choreographisch durchkomponiert die Demonstration zum 1.Mai. Reichtum der Assoziationen. Sich formierender Vortrupp der Arbeiterklasse, in den Volksmassen aufgehend, sie mobilisierend, von der Gewalt des Klassenfeindes getroffen. Anrennen der Arbeiter gegen die Sperrkette des Militärs, Aufschrei und Aufruf über die Soldaten hinweg ins Publikum als dem potentiellen Verbündeten. Bewegend die Folterszene des Rybin (Witali Schapowalow). An den gefesselten Armen aufgehängt, schleudert er seinen Peinigern die Wahrheit ins Gesicht. Das revolutionäre Feuer seiner Argumente zündet bei den vom Militär in Schach gehaltenen Bauern.

Die Fülle der bildhaft-reichen Vorgänge scheint die Fabel zu überdecken und zielt doch immer wieder auf sie hin. Dabei sind mit frappierendem Instinkt aus dem unendlichen Repertoire theatralischer Mittel stets solche ausgewählt, die die jeweilige Aussageabsicht am wirkungsvollsten ins Szenische bringen. Naturalistische Details finden sich unmittelbar neben hochstilisierten. Wenn z. B. die Mutter das Fahnentuch für den 1. Mai bügelt, dann geschieht das mit wirklich darauf gepustetem Wasser und zischend heißem Plätteisen. Damit wird visuell deutlich: Die Mutter mißt dieser Tätigkeit große Bedeutung bei. Sie verwendet sogar Wasser! Aber sie bügelt nicht etwa auf einem realen Tisch (für die Aussage ist das unerheblich), sondern auf einem aus dem Schnürboden herabgelassenen und quer über die gesamte Bühnenfront reichenden stählernen Gerüst, das auch als Bahre oder Werkbank ins Spiel einfunktioniert werden kann.

Ein anderes bemerkenswertes Detail: eine Rechtfertigungsrede des zaristischen Offiziers direkt ans Publikum. Die im Brustton tiefster Überzeugung vorgebrachten abfälligen Bemerkungen über die Soldaten bringen die Erkenntnis ins Spiel, daß es sich bei ihnen um ins Militär gepreßte Söhne von Arbeitern und Bauern handelt. Der Darsteller verfremdet den Vorgang nicht, er identifiziert sich. Der zaristische Offizier wird nicht ins Unrecht gesetzt, selbst ihm wird eine Perspektive gegeben. Mir scheint dies Ausdruck für das ungebrochene Verhältnis der sowjetischen Theaterschaffenden zur revolutionären Geschichte ihres Landes, die sie nicht allein mit gedanklich-kritischem Kalkül, sondern vor allem mit Herz und Leidenschaft für ihre Zeitgenossen aufbereiten.

Zwei außerordentlich anregende Theaterabende. Unsere Neugier auf Ljubimow und sein Theater an der Taganka ist noch gewachsen. Zum Beispiel auf »Galilei«.

 

 

 

Theater der Zeit, 4/1978