„Nathan“, „Philotas“ und „Emilia
Galotti“ von Lessing am Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter Michael
Jurgons
Bekenntnis zur Kraft menschlicher Vernunft
Es gehe ihm mit „Nathan" wie mit
allen guten Stücken: Man wird nie mit ihm fertig. So Intendant Dieter Mann
unlängst in einem ND-Gespräch zur Neuinszenierung des Lessing-Stückes am
Deutschen Theater, der vierten bereits seit 1945. Die immer neue
Auseinandersetzung mit jenem dramatischen Gedicht des großen deutschen
Aufklärers, das Toleranz und Friedensliebe als Grundsubstanzen tätiger Humanität
feiert — welch würdige konzeptionelle Aufgabe für ein sozialistisches
Staatstheater, für ein Haus mit der Tradition dieser Berliner Bühne. Und welch eine
Herausforderung!
Um es vorwegzunehmen: Das Kollektiv um Intendant Dieter Mann und den Künstlerischen Leiter Friedo Solter, der auch — und schon zum zweiten Male bei diesem Stück — Regie führte, hat glänzend dabei bestanden. Dieser „Nathan der Weise", herausragender Abend eines mehrgliedrigen Lessing-Projektes, wurde zugleich auch zu einem überragenden Ereignis dieser Berliner Festtage.
Mit der Inszenierung wurde eine sozial-realistische Interpretationslinie gültig fortgeführt, die 1945 in der programmatischen ersten Theateraufführung Berlins nach der Befreiung begonnen hatte. Damals konnte Paul Wegener als Nathan die politischen, ethischen und moralischen Postulate der Humanität wieder frei und rein verkünden. Sein leidenschaftliches antifaschistisches Bekenntnis prägte das mit der Ring-Parabel formulierte Ideal friedfertigen Miteinanderlebens.
Zehn Jahre später lebte der schon hochbetagte
Eduard von Winterstein ein in sich festes, kräftiges und unerschütterbares Ideal
menschlicher Humanität vor. Es war bestimmt von der Zuversicht, daß Vernunft
und Tatkraft ein friedliches Dasein einzurichten und zu behaupten fähig sind.
1966 dann entdeckte uns der junge
Regisseur Friedo Solter das konkrete soziale Umfeld des „Nathan", dessen
Gebundensein in eine tief mittelalterliche, interessenzerrissene Gesellschaft.
Und Wolfgang Heinz in der Titelrolle regte mit seinem Talent, seiner Sprachkraft
zu genußvollem Mitdenken an, zum Nachvollzug streitbarer Weisheit, die mit zäher
Beharrlichkeit, Geduld und List die Humanität verteidigt.
Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen.
Solter, gereifter, sensibler, hat nun Gültiges vergangener Inszenierungen
aufgenommen — die Unerschütterbarkeit des Ideals, die in sozialökonomische und
politische Zwänge gebundene Existenz seines Verkünders — und zugleich das
gesamte Werk aus dem aufgeklärten sozialen Bewußtsein unserer Tage neu
gesichtet und bewertet.
Zunächst einmal ist sofort zu spüren: Der
Regisseur kennt sich aus wie wenige in dieser gleichnishaften Geschichte vom
jüdischen Kaufmann Nathan, der in Jerusalem eine Christin aufzieht, nachdem ihm
Christen in einem Massaker Weib und Kinder umgebracht haben. Mit Intelligenz, Humor,
Anmut und Deftigkeit veröffentlicht Solter des Dichters philosophischen Ruf
nach Toleranz und macht — dies das meines Erachtens Neue — rigoroser als alle
bisherigen Inszenierungen sichtbar, wie kühn Lessing vorausdachte.
Deutlich erkennen wir jetzt: Der
Dichter wußte nur zu gut, daß die Vision seiner Ring-Parabel weit in die
Zukunft reicht, wußte von ihrer Relativität in einer in feindliche Lager gespaltenen
Gesellschaft. Daher die herausfordernde, die märchenhafte Lösung — nicht als
Liebespaar finden sich Recha und der Tempelherr, sondern als Geschwister; nicht
das isoliert-individuelle Glück einer rührseligen Familienromanze wird beschworen,
sondern das wünschenswerte Glück einer brüderlich verbundenen Gemeinschaft von
Menschen.
Solter inszenierte genau das widersprüchliche,
dialektische Verhältnis von Utopischem und Realem solch progressiver Sehnsucht
der Vernunft in der heutigen Zeit. Wirksam unterstützte ihn dabei Bühnenbildner
Hans-Jürgen Nikulka. Die variablen nüchtern-weißen Wände, moderne
Häuserfluchten meist, die das in der Zeit der Kreuzzüge sich zutragende
Geschehen ins Gegenwärtige rücken, wandeln sich zum üppig-exotischen,
verheißungsvollen Grün einer launigen Sommernacht. Mittendrin ein naiver, ironisch-komischer
Reigen der Versöhnung. Sultan Saladin umarmt freudetrunken den Tempelherrn und
Recha, Sittah gibt sich ergriffen-kühl. Doch der romantisch-harmonische Zauber verflüchtigt
sich. Am Ende steht der Humanist Nathan — wieder, noch — allein und eingekeilt
zwischen anonymen Wänden. Eine bestürzende, Widersprüche bewußt machende, eine
sozial-realistische Deutung von mobilisierender Aussagekraft: Auch das Publikum
soll so schnell nicht fertig werden mit diesem „Nathan"...
Solter vermittelt seine Sicht mit einem auf
das Wort und auf die situative Geste gestellten Spiel. Seine Synthese von
real-heutigen Haltungen und leicht theatralisierter Gestikulation führt zu erstklassigen
schauspielerischen Leistungen.
Allen voran im ausgewogenen Ensemble steht
Otto Mellies. Sein Nathan ist nicht einfach die Fortsetzung großer, berühmter
Vorgänger. Faszinierend vor allem, wie Mellies die Konzeption des Regisseurs
aufnimmt und zugleich seine politische Persönlichkeit in die Gestalt einbringt.
Kein abgeklärter Greis, ein Mann in den besten Jahren, weise durch cleveres
Geschäft, weise durch streitbares, duldsames wie ungeduldiges, stets
lebenspraktisches Denken und Handeln. Seine Weisheit überzeugt durch ihre Illusionslosigkeit,
gerade daraus wächst ihre realistische Kraft, die Fähigkeit, das Leben in
seiner Kompliziertheit zu bewältigen.
Christine Schorn gibt die Daja als
ein gewitzt-wendiges, redlich frommes und zuweilen bigottes Frauenzimmer, das
den Tempelherrn umlauert. Der ist in der forschen Gestaltung von Tobias Langhoff
ein rechtes Rauhbein, ein zum Eroberer gedrillter, im Herzen human gesonnener
junger Bursche. Der Saladin wird von Jörg Gudzuhn als ein
schrullig-edelmütiger, bescheiden-pompöser Herrscher vorgestellt.
Zu preisen auch: der Derwisch von Dieter Mann
— duckende Vorsicht, versteckte Unruhe. Die Sittah von Katja Paryla — saloppe
Mondänität, weibliches Kalkül. Die Recha von Ulrike Krumbiegel — burschikose
Vaterliebe, ungebärdige Jungfräulichkeit. Der Patriarch von Ulrich Mühe — scheinheilige
Menschenliebe, doktrinäre Kälte. Der Klosterbruder von Volkmar Kleinert —
einfältige Servilität, tastendes Selbstbewußtsein. Der Emir von Horst Manz —
groteske Schießwütigkeit, horrende Naivität.
Das Deutsche Theater hat in zeitbewußter
Spielplandisposition gleich für eine mehrfache Begegnung mit Lessings
aufklärerischer Vernunft gesorgt: Zum Lessing-Diskurs der Bühne gehören des weiteren
„Emilia Galotti", der kaum noch gespielte „Philotas" und eine
Matinee. Problematisch scheint mir die Zuordnung der „Emilia". Was in
diesem Stück vorgeht, ist die heutiger Einsicht zuwiderlaufende Entscheidung, die
Bewahrung jungfräulicher Tugend höher anzusetzen als das Leben — heute objektiv
nur noch komisch.
Der junge Regisseur Michael Jurgens
geht eine Gratwanderung, indem er Emilias Schicksal — in der Titelrolle Dagmar Manzel — fast klassizistisch gemessen auszuschreiten
trachtet, es mit expressionistischen szenischen Apercus aufputzt und das Komische
nur am Rande ausufern läßt. Gudrun Ritter (Mutter Claudia) und Margit Bendokat
(Gräfin Orsina) gelingen beklemmend-tragikomische Szenen. Ansonsten weicht
allenthalben die konkrete Geste der konventionellen Theatergebärde — ein reines
Trauerspiel.
In der Vormittags-Matinee „Laut denken mit
einem Freunde" (Buch und Leitung: Helmut Rabe und Erhard Marggraf) hat
Lessing unmittelbar das Wort. Da träumt kein Utopist, da diskutiert mit uns ein
überzeugter, leidenschaftlicher Humanist in der starken Sprache der Poesie. Klaus
Piontek und Barbara Schnitz!er sprechen mit Lust an der Plastizität des
Gedankens.
Mit Friedo Selters Inszenierung des
„Philotas" wurde das Werk für die Bühne wiederentdeckt. In der klaren
Architektur seiner dramaturgischen Kunst hat hier Lessing 1759, während des
Siebenjährigen Krieges, die ideellen Zwänge und materiellen Folgen einer
militaristischen Ideologie verhandelt und beschwörend-kritisch vor Augen
geführt. Sein „Held" Philotas vernichtet und richtet in seiner Person das als
angeblich menschenwürdig ausgegebene Dogma des Krieges.
Die Inszenierung bedient das hellsichtige
Denkspiel wahrhaft glanzvoll. Der abwägende Grundgestus des Textes findet überzeugende
Bildhaftigkeit. Ulrich Mühe stellt die schillernd-widersprüchliche Gestalt des „Helden"
dar, dessen tödliches Vernünfteln über Heroismus, Patriotismus und
Rationalismus — ein erbarmungswürdiger großer dummer Junge. Hervorragend auch Dieter
Montag (Aridäus), Horst Manz (Soldat Parmenio) und Volkmar Kleinert (Feldherr
Strato).
Beifall, viel Beifall.
Neues
Deutschland, 12. Oktober 1987