„Leonce und Lena“ von Georg Büchner am Schlosspark-Theater
Berlin, Regie Thomas Birkmeir
Märchenprinz als Aussteiger
Als er zu verkünden hat, daß alles zugrund geht in König Peters Puppenreich Popo, flüchtet der betrübte Zeremonienmeister zur eigenen Erheiterung in ein flottes pantomimisches Tänzchen (das Holger Daemgen keck spielfreudig hinlegt). Insofern sind in Georg Büchners Lustspiel »Leonce und Lena« höfische Untertanen noch nicht ganz und gar abgestumpft. Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, lassen sie sich sogar von Übermut hinreißen. Selbst die Bauern, in eisiger Kälte zu stupider Spalierbildung kommandiert, ertrotzen sich individuelle Aufmunterung. Auf Befehl zunächst martialisch »Vivat!« brüllend, setzen sie, des Schulmeisters Anweisungen ausdrücklich mißverstehend, ihr Rufen aufmüpfig mit »Ruhe!« und »Aus!« fort.
Von solch textdienlicher, geradezu liebevoller Zuwendung
finden sich in Thomas Birkmeirs phantasievoller Inszenierung am
Schloßpark-Theater Berlin viele ergötzende szenische Erfindungen. Vielleicht
hat der Regisseur Büchners hintergründig sozialkritisches Märchen über lähmenden
Stillstand in einem duodez-absolutistischen Staatswesen und über die ziellose,
letztlich vergebliche Flucht eines Prinzen insgesamt ein wenig zu putzig angerichtet,
zu verspielt und gemütvoll. Des Dichters bitterer Spott über gesellschaftliche
Stagnation läßt sich drastischer fassen. Andererseits mied Birkmeir plumpe
Aktualisierung wie gängiges Klischee und traf im duftig bunten Bühnenbild Hans
Kudlichs achtbar den ironisch-lustigen Gestus und närrisch-witzigen Ton der
Märchenidylle.
Das Format des Abends wird wesentlich von einem Schauspieler bestimmt. Erich
Schleyer (schon als Furtwängler am Hause erfolgreich) spielt den Valerie, den gewitzten
Diener des Prinzen, souverän als einen abgeklärten Realo und bringt eine
Dimension von sozialer Wirklichkeit ins Kunstbild, die fasziniert. Büchners
sprachliche Spitzfindigkeiten, die wortspielerischen Eskapaden, bei Schleyer sind
sie nie formal geredeter Text, sondern aus greifbar echtem Verhalten spielerisch
produziert. Der Darsteller läßt Situationen entstehen, kostet sie aus, wechselt
die Haltungen. Köstlich zum Beispiel, wie er sich, noch eben trunken und schläfrig,
an die überraschend erscheinende Gouvernante (Gertrud Roll) heranmacht, wie er
turtelt, wie er verführt. Mit seinem natürlichen Spiel knüpft Schleyer, wie
Büchner mittels seiner Bauern-Szene, direkte Beziehungen zwischen Märchen und
Wirklichkeit.
Ansonsten wunderliche Mär. Ein güldener Schrank auf grüner Wiese unter blauem
Himmel. Aus dem Möbel, das mal als Portal, mal als Zimmer fungiert, quellen
possierlich die Figuren. Lieb vertrottelt ist Helmut Stauss als König Peter, zart
zerbrechlich Sabine Grabis als Prinzessin Lena. Marcello de Nardo, der Star des
Hauses, ist mir als Prinz Leonce eine Spur zu spröde rational. Daß er nicht vordergründig
den sich langweilenden Prinzen spielt, die personifizierte Melancholie, sondern
einen aktiven, sich ausprobierenden, auf die Welt neugierigen jungen Mann,
scheint, mir bemerkenswert. Just daher sollte romantische Versonnenheit das
Profil dieses »Aussteigers« bereichern.
Am Ende des Märchens noch ein besonderer Hauch Realität.
Fatalismus der Natur. Nachdem der Prinz heimgekehrt ist und mit Hilfe des
listenreichen Valerio Prinzessin Lena geheiratet hat, so daß sein Vater, König
Peter, endlich abdanken und ungestört »denken« kann, kommt heulender Sturm auf
im Reiche Popo. Zwar propagiert Valerio, der neue Staatsminister, noch
vollmundig sein schlaraffenlandiges Regierungsdekret, doch der frischgebackene
Regent hört kaum zu. Er hockt sich besorgt nieder und hüllt sich in seinen
Mantel, unter dem scheu auch Lena Schutz sucht.
Neues
Deutschland, 10. November 1998