„Lenins Tod“ von Volker Braun am Berliner Ensemble, Uraufführung, Regie Christoph Schroth

 

 

 

Eine Aufgabe für Giganten, die von Menschen gelöst werden mußte

 

Das ist ein theatralischer Balanceakt zwischen Hybris und Takt — von Volker Braun, der „Lenins Tod" 1970 schrieb, und Christoph Schroth, der das Stück jetzt am Berliner Ensemble zur Uraufführung brachte. Welch künstlerische Kühnheit, Lenins letzte Lebensmonate dramenchronistisch aufzuarbeiten. Welches Feingefühl ist gefordert, sich dabei als Autor bewußt im Hintergrund zu halten.

Die elementaren Existenzfragen des revolutionären proletarischen Kampfes in Rußland in den Jahren 1922/24      das Land war zur Neuen ökonomischen Politik übergegangen, die Gründung der UdSSR wurde beschlossen — sind für die Historiographien heute und gewiß auch in Zukunft ein unerschöpflicher Forschungsgegenstand. Wenn sich ein Dramatiker einmischt, kann er nicht den Ehrgeiz haben wollen, wissenschaftlich verbindliche Antworten zu geben. Aber er kann, seinem Metier gemäß, eine ästhetische Deutung bieten.

Die poetischen Bilder, die sich mir vermitteln, und zwar die wesentlichen, die das Unternehmen in meinen Augen rechtfertigen, erzählen verantwortungsvoll und mit dichterischer Kraft vom schwierigen demokratischen Entscheidungsfinden im Politbüro der ersten kommunistischen Partei dieser Erde, die die sozialistische Revolution siegreich geführt und die gesellschaftliche Macht errungen hat. Die Bilder erzählen dialektisch von einer Aufgabe für Giganten, nämlich die junge Sowjetmacht zu behaupten, und davon, daß sie von Menschen gelöst werden mußte.

Hier kristallisiert sich das für mich entscheidende Bild heraus. Die Volksmassen führte ein genialer Kopf: Lenin, der unbeugsame Führer, Lehrer und Freund des russischen Proletariats. Er wußte die kompliziertesten neuartigen sozialen Prozesse zu analysieren, und er vermochte die eigenwilligsten Persönlichkeiten letztlich immer wieder zu einem schöpferischen Leitungskollektiv um sich zu versammeln. Diesem Genie ordneten sich auch Persönlichkeiten wie Stalin und Trotzki zu. Insofern war Lenins früher Tod eine wahre, ein ungeheure Tragödie. Wissenschaft stellt dies sachlich fest. Die Theaterkunst macht es zu einem die Seele ergreifenden und die schmerzlichen Ereignisse neu wachrufenden Erlebnis.

Braun freilich mag keine Klage. Er provoziert Betroffenheit. Seine Szenenfolge fußt auf dokumentarischem Material. Er hat Äußerungen Lenins teils direkt für seine Dialoge übernommen. Dabei verschärft er durch Kürzungen, bleibt aber — soweit ich das überblicken kann — prinzipiell dicht an den geschichtlichen Fakten. Er gestaltet die Vorgänge vornehmlich aus dem Geist des Leninschen politischen Vermächtnisses. Hier ist er ganz der Hochachtung gegenüber seinem Helden verpflichtet. Er modifiziert insofern, als er die Debatten im höchsten Führungsgremium immer wieder korrespondieren läßt mit von ihm erfundenen Szenen aus dem Volk, die sowohl Widerschein der Leitungsentscheidungen sind als auch sie bedingen. Das „Oben" und „Unten" tritt bei ihm in Wechselwirkung. Seine kompakten Dialoge strotzen von pulsierendem Leben.

Die Chronik hat ihren Höhepunkt in den beiden Schlußszenen. In der vorletzten, in der der an den Rand gedrängte todkranke Lenin kaum noch zu sprechen vermag, argumentiert sich Stalin in blendender Helle zur zentralen Gestalt. Und in der letzten, die mit der sachlichen Nachricht von Lenins Tod endet, begrüßt ein Kollektiv nicht nur glücklich das Kind der Arbeiterin Anja, das nach gemeinsamer Beratung und Abstimmung den Namen „Wolodja" erhält, sondern in dunklem Raum auch das elektrische Licht - Sinnbild für die Elektrifizierung Sowjetrußlands.

Das fröhliche Spiel mit der kostbaren Glühbirne — übrigens kaum karikiert — ist ein Einfall der Regie. Schroth ist ein wahrer Meister szenischer Beredsamkeit. Auch in dieser Aufführung. Aber die beim Autor zu rühmende taktvolle Zurückhaltung kann ich bei ihm nicht finden. Schroth nutzte alte, aus dem Roten Theateroktober überkommene, in anderer historischer Situation funktionstüchtige Theatermittel. Das erweist sich für Brauns modernen Text keineswegs nur als gün­stig.

Zunächst einmal nimmt der Regisseur die Statements von Regisseur Meyerhold, Dichter Tretjakow und Physiker Lasarew demonstrativ nach vorn. Von seinem Bühnenbildner kräftig unterstützt, macht er den Zuschauern a priori klar: Hier wird Theater gespielt, Leute! Und zwar nach Meyerholds biomechanischer Methode, die die satirisch-zuspitzende Stilisierung suchte. Schroth inszeniert Brauns Stück hin zur tragischen Groteske.

Auf diese Weise gewinnt er eine drastische und plastische Verwesentlichung vieler Vorgänge, damit handelt er eine verarmende und schematisierende Typisierung der Figuren ein. Auf diese Weise erreicht er eine ästhetische Verallgemeinerung, die meines Erachtens zuviel von Brauns Menschengestaltung wegnimmt.

Besonders schmerzhaft empfinde ich das bei den Volksfiguren. Sie satirisch-keck als Karikaturen anzulegen, erzählt fast noch mehr über die derzeitige Auffassung des Regisseurs als über die Menschen und die persönlichen und sozialen Konflikte, die sie austragen. Ich denke schon, daß die Volksmassen, gerade wenn sie vom Dichter differenziert, lebendig und pointiert individualisiert ins Bild gebracht werden, ein reicheres Gesicht verdienen. Der Regisseur arrangiert sozusagen lediglich, und das knallig, die Pointen. Natürlich läßt sich mit bio-mechanischer Methode auch etwas über die soziale Befindlichkeit von Menschen mitteilen. Aber müssen wir heute, wenn auch mit pfiffigem Gestus verständnisvoller Freundlichkeit, historisch bedingte Rückständigkeit plakatieren? Sollten wir nicht eher mit Brechts dialektischer Methode auch etwas nachdrücklicher vom gesteigerten revolutionären Potential, von der „Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfacht wurden" (Lenin 1923) schaubar machen?

In den Debatten im Politbüro, die wenig, aber doch auch in leicht karikierender Weise angelegt sind, bricht der Lebensrealismus der authentischen Texte durch und mildert die Darstellung, die — abstrahierend gewissermaßen — jeweils das Prinzip, etwa das „Prinzip Lenin", zeitlos herauszufiltern sucht. Nicht zufällig aber, scheint mir, erzielt der Schauspieler am meisten Effekt, der sich der Regie nicht unterordnet, sondern seine Figur menschengestaltend profiliert: Arno Wyzniewski als demagogisch verführerischer Trotzki. Auch Christine Gloger findet zum Menschen in Nadeshda Krupskaja. Michael Gerbers Lenin, eingeschnürt in den Willen der Regie, kann sich nicht entfalten, bleibt blaß und ohne jegliche Ausstrahlung. Jaecki Schwarz (Stalin), Martin Seifert (Sinowjew), Klaus Hecke (Radek), Andrea Solter (Anja) und Herbert Olschok (Pjatakow) seien genannt noch aus dem engagierten Ensemble.

Der prononcierte Aussagewille des Regisseurs wird merklich betont durch die Bühnenbilder Lothar Scharsichs. Er zitiert mannigfach, durchweg beredt, etwa den „Eisernen Vorhang", der in gegebener Situation heruntergeht. Den Volksfiguren gibt er ein „Wetterhäuschen", aus dem sie herausschauen, in das sie verschwinden. Rainer Böhms Musik gibt dezent und einfühlsam den Auftakt zur jeweiligen Szene.

Das artifizielle Format der Inszenierung ist unbestritten. Und dennoch: Ich meine, das ist zu wenig, zu wenig.

 

 

Neues Deutschland, 4. Oktober 1988