„Lebensstoff“ von Simon Donald vom Deutschen Theater Berlin, Regie Sewan Latchinian

 

 

 

Lebensstoff statt Lebensinhalt

 

Schauspielen im Luftschutz­bunker! Ist's eine Marotte? Oder etwa Public Relations? Muß das Theater zu Werbe-Praktiken der Marktwirtschaft greifen? Wird die Bühnenkunst in der Medien-Welt zerrieben? Fragen drängen sich auf.

Wie es um das Theater be­stellt ist, welche Wertschät­zung es in der Öffentlichkeit genießt, läßt sich - leisten wir uns diesen Exkurs - beispiels­weise an der Art ablesen, wie es von deutschen Buchhand­lungen behandelt wird. Die Leut' da, denkt man, haben von Berufs wegen mit Kultur zu tun, sind sozusagen dazu verpflichtet, ein Herz für das Theater zu haben. Doch längst nicht alle fühlen sich dazu an­gehalten, das zeitgenössische Angebot von Theaterliteratur repräsentativ vorzustellen.

Ich hoffe sehr, mich zu irren (und die Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo kenne ich sehr wohl). Betritt man aber bei­spielsweise die angeblich re­nommierte Buchhandlung Kiepert in der Berliner Friedrich­straße, kaum 200 Meter vom Schauspielhaus entfernt, sucht man nach Büchern über das Theater vergebens. Begriffe wie „Garten", „Pflanzen", „Wohnen", „Psychologie", „Sprachen", „Philosophie" fin­det man bald, aber „Theater" nicht. Erkundigt man sich schließlich beim Personal, be­kommt man zur Auskunft, ein „winziges Plätzchen" befindet sich im Erdgeschoß links ne­ben der Reise-Literatur. In der Tat. Dort in einer Ecke, ohne Hinweisschild, stehen zwei, drei Bücher und ängstigen sich. Warum solch' Zustand? Theaterliteratur verkauft sich nicht. Die Marktwirtschaft reguliert sie folglich hinaus aus den Regalen.

Verstehen wir denn also bit­te, daß Theater gelegentlich, wenn nicht gar immer öfter, zu ungewöhnlichen Mitteln greifen müssen, um Aufmerk­samkeit zu erregen. Jüngstes Beispiel ist ein Abend in einem Berliner Luftschutzbunker. Man fährt oder geht an dem Monstrum vorbei, wenn man dem Deutschen Theater oder dessen Kammerspielen zu­strebt. Das Relikt aus Gröfaz-Zeiten, nicht demontierbar of­fensichtlich, ein Beton-Klotz, dient neuerdings als Spielstätte für das Deutsche Theater.

Und das Erstaunliche, das im Grunde Bestürzende: der „Lebensstoff' („THE LIFE OF STUFF"), den der englische Autor Simon Donald offeriert, gehört einfach und unbedingt in diese dunklen, muffigen überirdischen Katakomben. Donalds Stück über Unsäglich­keiten heutigen Lebens würde jeden normalen Theaterraum sprengen. Das Theater also verläßt seinen Tempel der Hu­manität (was diverse sich durch die Zeiten schleppende „freie" Theater übrigens schon lange getan haben!) und taucht ab in eine betonierte Gruft, erbaut einst, um menschlichen Irrsinn überleben zu können. Jetzt nistet sich nicht militärischer, sondern zivilisatorischer Irrsinn dort ein, wenn auch zum Glück nur als ein Spiel.

Regisseur Sewan Latchinian tut, was er vermag, um wenigstens einen Rest Menschlich­keit aufzuspüren bei Donalds jungen Leuten, die dem „Seelen-Supertröster" verfallen sind. Das nämlich erzählt diese deutsche Erstaufführung: Statt Lebensinhalt bietet die kapitalistische Gesellschaft der Ju­gend „Lebensstoff', durch des­sen Genuß sie sich von der Realität abheben und wunder­schön träumen kann - also die Herrschenden in Ruhe läßt.

Gezeigt werden kleine Ga­noven der Drogen-Mafia, die sich gegenseitig drangsalieren und umbringen. Der Disco-Betreiber Willie Dobie (Uwe-Dag Berlin), der zwielichtige Davey Arbogast (Michael Walke), der „Sicherheitsboß" Leonard (Guntram Brattia) und der mysteriöse Hintermann Sneddon (Udo Kroschwald). Zwei Ju­gendliche sind in ihrer Gewalt, Janice (Petra Hartung) und Fraser (Axel Wandtke), die sich für Drogen zu einem Verbre­chen anstiften ließen. Zwei dumme Puten, Holly (Franziska Hayner) und Evelin (Stefa­nie Stappenbeck), die scharf sind auf lupenreinen Stoff, las­sen sich mißbrauchen. Die Darsteller agieren mit einer Perfektion, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes als Drogensüchtige gespielt. Kom­pliment.

Nun befindet man sich in diesem Bunker ja stets auf Tuchfühlung mit den Schauspielern. Vor allem für junge Zuschauer ist das gewiß von zusätzlichem Erlebniswert. Zu­mal sie die zweieinhalbstündige Wanderung von Ereignisort zu Ereignisort mühelos überstehen. Dabei darf geraucht und getrunken werden. „Haf­tung für Personenschäden" und „für verschmutzte und be­schädigte Garderobe" über­nimmt das Theater nicht; denn - erfährt man per Handzettel, nachdem man bereits bis zum 4. Stock hochgestiegen ist - die Vorstellung findet in einem Bunker statt.

 

 

Neues Deutschland, 22. Dezember 1994