„König Lear“ von Shakespeare vom
Schauspielhaus Zürich, Regie Bernard Sobel
Hohe Sprechkultur
„Es war schon immer mein Traum, einmal auf der Bühne dieses wundervollen Theaters zu spielen", sagte die Schweizer Schauspielerin Maria Becker in einem Fernsehinterview zum Gastspiel des Schauspielhauses Zürich im Deutschen Theater Berlin. Mit diesem Haus verbinde sich die gemeinsame Arbeit mit Wolfgang Heinz, Wolfgang Langhoff und Mathilde Danegger, die in Zürich im antifaschistischen Exil waren. „Für mich sind das gewissermaßen historische Räume, die in Beziehung stehen zu Menschen, die mir viel in meinem Leben bedeutet haben."
Am Zürcher Schauspielhaus erlebten
Stücke von Bertolt Brecht und Friedrich Wolf ihre Uraufführung. Hier war ein
Zentrum des humanistischen geistigen Widerstandes gegen den Faschismus in
Deutschland. Notwendigerweise war damals die bewußte Pflege der deutschen
Sprache eine Voraussetzung für das Wirken der im Exil lebenden Schauspieler.
Als sie nach 1945 wieder nach Berlin kommen konnten, brachten sie auch ihre
hohe Kultur des Sprechens mit. Ich habe die klangvollen, vitalen Stimmen eines Wolfgang
Langhoff oder eines Wolfgang Heinz noch immer im Ohr. Und welch ein Genuß,
Mathilde Danegger sprechen zu hören.
Beeindruckend auch heute sofort die
Sprechkunst der Zürcher, bei Shakespeares Tragödie „König Lear" ebenso wie
bei Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker". Ganz offensichtlich hat sich
an diesem Theater über Jahrzehnte hinweg eine Tradition solider Bühnensprache
bewahrt.
Überraschend andererseits für mich,
daß die gepflegte, wohllaute Schönheit des Sprechens die Schauspielkunst
nachhaltig prägen und gleichsam abschirmen kann gegenüber der Realität. Dieser
„Lear" jedenfalls in der Regie von Bernard Sobel und in den hübschen Bühnenbildern
Nicky Rietis ist ein in eine vornehm aufsagende Sprechweise gehülltes
harmonisch-phantastisches Märchen.
Shakespeare griff 1603/06 eine von
Gottfried von Monmouth erzählte Mythe auf, der den Konflikt Lears mit seinen
Töchtern Goneril, Regan und Cordelia auf eine Zeit um 800 v. u. Z. festlegte,
also in der rohen Brutalität und rauhen Einfalt des „Kindesmenschenalters".
In dieser barbarischen Welt reflektierte und prüfte Shakespeare die Gebrechen seiner
Zeit, die zu Ende gehende feudal-patriarchalische Macht, die sich egozentrisch
nur an sich selbst maß, die weder Sinn noch Maßstab entwickelt für soziale Veränderungen.
Hans Dieter Zeidlers Lear, pomphaft-selbstbewußt,
läßt zum Auftakt durchaus die immense historische Borniertheit dieses Königs
ahnen. Aber die theatralischen Arrangements, die ihm die Regie abverlangt,
drängen ihn in die Kunstfertigkeit des Sprechens und der Gebärde. Die eigentliche
elementare, krude Natur dieser Gestalt bricht nie durch, deren magische
Visionen bleiben rhetorisch. Daher wurde es schwer, den Abstieg des von seinen
Töchtern verstoßenen Lear in den erkennenden Wahnsinn mit Anteilnahme zu
verfolgen.
Bei Eva Rieckis Goneril teilt sich
über Geste und Stimme haßerfüllte Bosheit mit. Auch Ingold Wildenauer als Graf
von Kent hat reale Töne. Und Alfred Pfeifers armer Tom überzeugt, wenn er zu
Dialekt und Knüppel greift, um den Vater zu verteidigen.
Neues
Deutschland, 20. Oktober 1987