„Ein Monat auf dem Lande“ von Iwan
Turgenjew am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff
Kunst des Ensemblespiels -
vollendet dargeboten
Überragende Schauspielkunst im Deutschen
Theater, Freude an nuancierter realistischer Menschendarstellung. Thomas
Langhoff führte Regie. Der Künstler zählt zu den Regisseuren, die um die
poetische Substanz eines Stückes ringen. Dabei setzt er nicht auf äußerliche
theatralische Effekte. Er spürt innerste seelische Regungen des Menschen auf, läßt
Vitalität und Sensibilität gestisch wirken.
Langhoff will nicht unbedingt und vordergründig aktuell sein. Er überrascht und überzeugt mit Inszenierungen, die in ihrer humanistischen Sicht auf das Leben den Zuschauer zutiefst zu bereichern vermögen, die erbauen, ergötzen. So war dies unlängst mit Sudermanns „Sturmgeselle Sokrates"; so geschieht es jetzt mit Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande".
Iwan Turgenjew (1818—1883), russischer
Novellist und Dramatiker, war ein Meister der Psychologie. Er schrieb seine
grazile Komödie 1849/50 in Paris, als in seiner russischen Heimat heftige Klassenauseinandersetzungen
im Gange waren. Die Uraufführung sollte erst 1872 in Moskau stattfinden.
Turgenjew bekannte sich als Gegner der Leibeigenschaft und wurde deshalb vom
Zaren verfolgt. In „Ein Monat auf dem Lande" schilderte der Schriftsteller
das herrschaftliche russische Landleben, eingefangen und gespiegelt in der
melancholischen, gepflegt-bedeutungsleeren Konversation eines feudalen Salons.
Mit anmutiger Ironie konstatierte der Autor, daß schon ein Windhauch neuen
gesellschaftlichen Geistes die satt-selbstzufriedene soziale Befindlichkeit der
Gutsbesitzergesellschaft in Unruhe versetzen kann.
Das frische Lüftchen kommt im Stück mit
Alexej Beljajew, einem ansehnlichen, mittellosen Studenten aus Moskau, der als
Erzieher der Kinder des reichen Gutsbesitzers Islajew angestellt wird. Alexejs
kraftvolle Männlichkeit fasziniert Natalja, die Frau des Hausherrn. Vor Jahren
hat sie standesüblich geheiratet, unterdessen gewissen Gefallen gefunden an
ihrem treuherzigen, arbeitsamen Mann, diese Beziehung gar für Liebe gehalten.
Nur zwischenhinein wurde aus Langeweile ein wenig mit dem klugen Hausfreund
Rakitin geflirtet. Diesen Beljajew aber beginnt die mittlerweile
neunundzwanzigjährige Frau wirklich stürmisch zu lieben, wovon der Betroffene
allerdings nichts ahnt. Eifersucht erfaßt Natalja, weil sie
meint, Werotschka, ihre Pflegetochter, werde ihr vorgezogen. Verzweifelt greift
sie zu böser Intrige.
Jutta Wachowiak — von Langhoff mit Akribie
geführt - ist eine feinsinnig-aparte Natalja von charmanter Leidenschaftlichkeit.
Den konventionellen Flirt beherrscht diese Frau souverän. Aber Ausbrüche ihrer
Liebe, in denen sich ihr wahres Naturell offenbart, weiß sie nur schwer hinter
gesellschaftlicher Etikette zu verbergen. Die Bösartigkeit gegenüber ihrer
Pflegetochter ist dann wie ein Netz, in das sie sich ungewollt verstrickt, aus
dem sie sich nicht zu lösen vermag, selbst wenn sie es am Ende wild aufbegehrend
zerreißt.
Christian Grashofs Hausfreund Rakitin ist von
bombastischer Aufgeblasenheit. Mit forcierter Noblesse stellt der exzellente
Schauspieler den Schönling und Nichtstuer sarkastisch bloß. Vollendet, aber
dünnblütig die Konversation des Rakitin, dessen artiges, aber fades Werben.
Dagegengesetzt der junge Beljajew, zwar völlig
unbedarft, aber von anregender Natürlichkeit: Jan-Josef Liefers wächst in
dieser Rolle freilich nicht übermäßig einnehmend aus seinem armseligen Jackett
heraus. Da glimmt keine Glut, da lodert kein Feuer auf. Gut bringt er die naiv-heitere
Unbekümmertheit des Studenten ein, der erst zu ahnen beginnt, daß er offenbar
ein Typ Mann ist, nach dem sich Frauen verzehren.
Denn auch Werotschka, die Pflegetochter, mag
ihn. Ulrike Krumbiegel gibt diese sehr herb, gestisch verhalten, zu abgehärmt,
um aufblühender Liebe Ausdruck zu verleihen. Auch Katja, das Dienstmädchen,
liebt Beljajew. Vorzüglich zeigt es Johanna Schall: huschende, doch ganz anwesende
Zurückhaltung, ergebenes, kaum verhülltes Schmachten.
Dieses wechselnde, sich kreuzende Verstecken
und Offenlegen geheimster Gefühle begibt sich in zartfarbenem Salon, den Pieter
Hein geschickt in einen sonnigen Garten oder in eine dunkle Scheune zu
verwandeln versteht. Dezente Lichtregie zaubert Atmosphäre, gibt den Emotionen
anheimelnd Raum bis ins Parkett hinein. Dort steht eine große, silbrig
glänzende Birke wie ein Symbol auch für heutige erfüllte oder versagte
Liebessehnsüchte. Möglichen Überschwang der Gefühle aber führt der Regisseur immer
wieder ins Prosaische, ins reale Handlungsdetail zurück.
Inge Keller spielt die in der Konvention
erstarrte Mutter Islajews mit herrlich pointiertem Witz. Gudrun Ritter
skizziert herzhaft die jungfräulich-schrullige Gesellschafterin Lisaweta. Jörg
Gudzuhn agiert als Hausarzt Spigelski mit trefflicher Schnoddrigkeit. Ein
gleichmütiger, gelegentlich zynischer Opportunist, der kaltschnäuzig Lisaweta
als Braut samt Mitgift für sich requiriert und der für Geld verkuppelt — nämlich
Werotschka mit dem gutmütigen, scheuen Nachbarn Bolschinzow (von Hans Teuscher freundlichem
Belächeln preisgegeben).
Michael Gwisdek zeichnet feinfühlig den
redlichen, fast betrogenen Gutsbesitzer Islajew, lebenspraktisch auf dem Acker,
unbeholfen im eigenen Haus. Es ist sehenswert, wie behutsam der Darsteller
diese Figur in die Komik nimmt.
Die Kunst des Ensemblespiels beweist in
dieser Inszenierung des Deutschen Theaters wieder einmal ihre
Ausstrahlungskraft auf das Publikum. Es gab überaus herzlichen Premierenapplaus
für die Darsteller und den Regisseur.
Neues
Deutschland, 15. April 1985