„Der Kyklop“ von Euripides am
Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter
Der philosophierende Barbar
Zu sagen, die selige Operette wie die gepflegte Klamotte stammen vom antiken Satyrspiel her, scheint vermessen. Und doch: Als Friedo Solter jetzt am Deutschen Theater in Berlin den „Kyklop" des Euripides auf die Bühne zauberte, bog er gewissermaßen die theatralen Enden einer rund 2 500 Jahre alten Farce und die einer modernen Operette zueinander zu einem kurzweiligen Theaterabend.
Das Schönste: Die uralte Geschichte
von der Demütigung des Kriegshelden Odysseus durch den Menschenfresser
Polyphemos (9. Gesang der Odyssee, komisch aufbereitet von Euripides), deren
mythologische Daten und noch weniger deren einst aktuellen Bezüge schwerlich
vorausgesetzt werden können, ist dank der klaren Regie ohne Mühe nachvollziehbar.
Solter erzählt gestisch-beredt und mit souveränem Humor.
Gewiß, Hans-Jürgen Nikulka baute ein
etwas spartanisches Bühnenbild. Aber die Szene ist gefüllt mit sinnenfrohem,
stets plausiblem Spiel. Frank Raschkes Musik, angesiedelt zwischen Offenbach
und Webber, farbenreich instrumentiert, gibt der mit Texten u. a. von Theokrit
und Nietzsche angereicherten Satire das Format eines zeitgenössischen
Musicals. Wozu Eberhard Kube choreographisch beitrug, der den Chor der
skurrilen, pferdeschwänzigen Satyrn individualisierte und dynamisierte.
Auf Sizilien, in Höhlen nahe dem Ätna, hausen
Kyklopen, einäugige Riesen, die normalerweise von Lammfleisch und Käse leben,
aber sehr gern auch mal von Menschenfleisch. Ein edler Barbar unter ihnen, ein
philosophisches Talent, ist Polyphemos, der Sohn des Meeresgottes Poseidon. Bei
Solter träumt er von der schönen Neride Galateia (11. Idyll des Theokrit).
Deshalb wohl auch die Besetzung mit Eberhard Esche, dem profunden Ironiker, der
das Widersprüchliche glaubhaft macht. Sein Kyklop ist nicht primär der Barbar,
sondern ein bauernschlauer, koketter väterlicher Lulatsch mit bizarrem Kopfschmuck
und locker-elegantem Anzug. Ein zwar einäugiger, aber ziemlich realistischer
Seher dieser Welt. Seine Erkenntnis: Der Reichtum ist der Gott, das Sattsein,
der gefüllte Bauch. Alles andere ist nur Schwätzerei. Darum auch will er die
Delikatesse, den Fremden von der Insel Ithaka. Was dem Odysseus nun wahrlich
ungelegen kommt und weshalb er mit Zeus, seinem Gott, arg hadert. Ihn hat ein
widriger Sturm an die ungastliche Küste verschlagen. Der Kriegsheld, der Troja
schleifte, möchte mit Ruhm heimkehren und nicht in Sizilien verspeist werden. Was
Dieter Mann, der den König von Ithaka gibt, vergoldet das Haupt, eitel und
gemessen der Gestus, vorzüglich glaubhaft macht.
Zunächst versucht Odysseus, der Nahrung
braucht, mit Silenos (Bernd Stempel), dem dionysosfreundlichen Vater der
Satyrn, zu handeln. Was fast gelingt, denn für Wein ist der Sklave des Kyklops
zu jedem Geschäft bereit. Doch der Herr stört. Großartig die Szene, in der zunächst
Silenos und dann die Satyrn schwören (wobei die Darsteller feierlich ihre Masken
abnehmen), Polyphemos' Vorräte nicht angetastet zu haben. Was ihnen freilich nicht
geglaubt, aber verziehen wird. Denn des Meeresgottes Sohn hält sich mit
Kleinigkeiten nicht auf. Flugs hat er zwei Griechen verspeist. Odysseus hilft
sich mit einer List. Er macht den Riesen besoffen, so daß der einschläft.
Anstatt nun aber mit seinen Kriegern heimzuziehen, brennt er dem Kyklopen mit
glühendem Pfahl das Auge aus. Seit welcher Zeit die Barbarei nun wirklich
blind ist...
Indessen, solch tiefschürfender
Gedanke nur nebenher. Kurzweil ist angesagt mit maßvoller Bedeutung. Odysseus,
der König, triumphiert hoch oben in der Loge, der unterlegene, verstümmelte Barbar
nimmt die Maske ab und schwärmt noch einmal von Galateia. Ein humanistischer theatraler
Kratzfuß der Regie. Perfektes Theater. Bravos. Anhaltender Beifall.
Neues
Deutschland, 24. Januar 1994