Neue Dramatik belebt die Spielpläne

 

Uraufführungen in Leipzig, Schwerin und Dresden

 

„Himmlischer Kuchen" nannte der amerikanische Arbeitersänger Joe Hill eines seiner Spottlieder, eine Satire auf jene Welt, die dem kleinen Mann zur Moral macht, für die Reichen zu arbeiten, und die sich Gesetze schafft, ihn darin umkommen zu lassen. Himmlischer Kuchen wurde der Arbeiter­klasse seit je von den Bourgeois versprochen, und dafür durfte sie bluten.

Es gab in den letzten Wochen in der Republik drei bemerkenswerte Uraufführungen, die, unterschiedlich in Stoff und Thema, jene Verstrickung des Proletariers in die Fänge des bourgeoisen Staa­tes uns noch einmal vor Augen führten. Und in einem Falle, in dem Stück „Joe Hill — der Mann, der niemals starb" von Barrie Stavis, uraufgeführt von den Städtischen Bühnen Leipzig, wird die bit­tere Anklage unmittelbar zum Aufruf, die Moral vom „Himmlischen Kuchen" zu durchbrechen, für uns zur Mahnung, die errungene Einheit der Arbei­terklasse zu hüten. Gezeigt wird die Geschichte des Gewerkschaftsführers, Arbeiterdichters und -sängers Joe Hill, den ein amerikanisches Gericht im November 1915 unschuldig hinrichten ließ. Das Stück enthüllt die ganze Infamie des Prozesses, der eigens angestrengt wurde, um  den für  die Fabrik­herren unliebsamen Joe zu beseitigen.

Johannes Arpe als Regisseur der Aufführung be­nutzte geschickt die Drehbühne. Auf ihr baute Paul Pilowski karg, nüchtern, auf das Wesentlichste be­schränkt, das Bühnenbild. Und durch das Ineinanderübergehen der Szenen entstand eine theatra­lische Reportage, die, ausstrahlend von der Drehbühne wie von einem Bannkreis, überzeugende Intensität erreicht.

Mit Günter Grabbert fand die Regie für Joe Hill einen jungen Darsteller, der alles mitbringt, dieser Figur lebendige Spannkraft zu verleihen. Wenn er fest und bestimmt über die rotierende Scheibe schreitet, dann sieht man in ihm den klugen Arbei­terführer, dann spürt man jene überlegene Ruhes die von jeher die Kraft der Arbeiterklasse und ihrer bewußten Vertreter ausmachte. In den Ge­richtsverhandlungen aber vermisste ich das. Dort hat die Regie dem Heißsporn Grabbert keine Zügel angelegt. So wirkt Joe Hill unüberlegt rebellisch, wo er heißblütigen, aber gebändigten Zorn haben sollte. Die Gewißheit, daß Joe im Recht ist, gewinnt der Zuschauer hier nicht von dessen Haltung, son­dern lediglich aus dessen Worten. Selbst wenn Hill damals in Amerika vor dem Gericht so unbeherrscht gewesen wäre, das Theater verlangt, daß er mit Wort und Geste überzeugt. Günter Grabbert be­sitzt dazu alle Voraussetzungen; das war schon in der Altenburger Uraufführung des Schauspiels „Haus Potiphar" von Alan Max und Lester Cole zu er­kennen, obwohl er auch da den Neger Ben zu un­kontrolliert spielte.

In weiteren Rollen verdienen Beachtung: Edwin Dorner als umsichtiger Gewerkschaftsgruppen­Sekretär Ed Rowan; Kurt Oligmüller als kalt be­rechnender, sich bieder gebender Generalstaats­anwalt Stone; sodann Wolf Goette als Rechtsanwalt McBride und Ivan Malré als Rechtsanwalt MarshalL

Auf andere Weise der herrschenden Klasse aus­geliefert ist Pierre Dupont in dem Stück „Licht im Dschungel" von Thomas Randen. Dupont, der Sol­dat der französischen Armee, überfährt vor seinem Transport nach Vietnam in Frankreich einen Men­schen, gesteht seine Tat, will bestraft werden, wird aber dennoch nach Vietnam gebracht. Dort kann und soll er töten. Er aber begehrt auf gegen den schmutzigen Kolonialkrieg, unterläßt es, einen Offizier der Vietnamesischen Befreiungsarmee zu erschießen — und wird von den Kolonialisten er­schossen.

Das Stück, uraufgeführt am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, gibt eine Tragödie des einfachen Menschen, der, allein und auf sich gestellt, gegen die Herren nichts ausrichten kann. Das Werk zeigt diesen Tatbestand, ohne daß es die tieferen Zusammenhänge des Krieges in Vietnam aufzu­decken vermag. Daß die Rechtmäßigkeit des Kamp­fes der Vietnamesischen Volksarmee zum Ausdruck kommt, ist als Bekenntnis eines westdeutschen Autors beachtenswert. Thomas Randen hat einen Blick für die dramatische Situation, aber noch wenig Geschick bei der Austragung des Konfliktes. Vieles geriet zu breit und zu langwierig. Die Inszenierung Edgar Bennerts hat geholfen und das Ganze vor­teilhaft gestrafft.

Im Staatstheater Dresden schließlich inszenierte Hannes Fischer die Uraufführung des „Keller" von Hans Lücke. Auch in diesem Stück stecken die Men­schen tief im Netz der Lüge, hier des Faschismus. Deutsche Soldaten stehen als Kriegsbrandstifter in der Sowjetunion. Die Rote Armee überrollt die faschistische Front, in einem Keller bleiben einige deutsche Soldaten zurück. Der Autor schildert ihr Verhalten. Der eine ist jung und ahnungslos. Ihm bricht eine Welt zusammen. Der andere wird zum Mörder. Er will sein Leben mit dem Leben anderer retten. Aber Soldat Gründel, der Bauernsohn, und Obergefreiter Wieland, der sich scheute, überzulaufen, halten Gericht über ihn. Das Stück ist als Rei­ßer gedacht, so geschrieben und dementsprechend wirkungsvoll. Paul Herbert Freyer griff vor Jahren mit seinem „Verlorenen Posten" einen ähnlichen Konflikt auf. Hätte Hans- Lücke nicht weitergehen sollen? Er wird mir entgegenhalten: „So, wie meine Figuren agieren, könnte es sich zugetragen haben. Das Verhalten ist real, anders hätten sich die Sol­daten damals kaum entschieden." Aber geht es in der Theaterkunst um die platte Spiegelung des Lebens oder um die Überhöhung, um die reali­stische Interpretation? Es ist immerhin Tatsache, daß Tausende deutsche Soldaten übergelaufen sind. Gewiß, auch Gründel und Wieland fassen schließ­lich den Entschluß. Aber der ist nicht aus der errun­genen Gewißheit geboren, daß dem verbrecheri­schen Krieg ein Ende gemacht werden muß, son­dern diesen beiden bleibt gar nichts anderes übrig, wenn sie nicht im Keller hocken bleiben wollen. So erleben wir zwei aufregende Stunden, in denen sich deutsche Soldaten gegenseitig morden, aber der Ruf, den imperialistischen Krieg überhaupt als sinnlos zu verdammen, verhallt im Theatralischen, bevor er erklungen.

Es wird durchweg gut gespielt. Aufgefallen ist mir Walter Kainz als SS-Mann. Dieser Darsteller war in Leipzig selten ein zuchtvoller Sprecher. Jetzt ist er ruhig und exakt. Hans Lücke spielt den SS-Untersturmführer, wie er noch heute in den west­deutschen Illustrierten bewundert werden kann. Gerhard Vogt gibt den Soldaten Gründel, Gerhard Lau den Obergefreiten Wieland und Dietrich Körner den Fahnenjunker Erler.    

 

SONNTAG, 20. Oktober 1957