„Prinz Friedrich von Homburg“ und „Der
zerbrochne Krug“ von Kleist am Deutschen Theater Berlin, Regie Adolf Dresen
Kleist ohne Patina
Es fehlt nicht an spektakulären Versuchen, das hauptstädtische Theater attraktiv zu machen. Das Ungewöhnliche ist in der Tat ein starker Stimulus für Publikumsgunst. Auch solch Einfall: Drei Premieren an drei aufeinanderfolgenden Abenden. Wen macht das nicht neugierig? Nun also zwei Stücke an einem Abend. Auf daß wir Kleist absitzen! Vier Stunden ausharren bei diesem Vaterländischen ohne Vaterland? Vier Stunden müde Assoziationen zu verstaubten Idealen und Maximen? Mitnichten! Ein exzellenter Theaterabend mit einem großen Tragikomiker, dem größten deutscher Dramatik, aufbereitet von Adolf Dresen. Das ist das Erfreuliche: Der Abend ist attraktiv in der Substanz, im mimetischen Kern.
„Der Prinz von Homburg", schrieb
Herbert Jhering vor fünfzig Jahren, wird „erst dann in
letzten Geheimnissen seiner Form geahnt werden, wenn er im politischen Tagesstreit
nicht einmal zu Mißverständnissen mehr Anlaß geben kann." Eben dies stellt
sich her. Die Händel zwischen Homburg und Friedrich Wilhelm sind heute nicht
mehr unmittelbar von Belang. Unser freier, dialektisch geschulter Blick
enthüllt am kasuistisch starren Dogma des brandenburgischen Herrschers komische
Züge. Und Dresen hilft, sie als realistische Entdeckungen Kleists zu erkennen.
Hatte also Franz Mehring unrecht, als
er das Stück „das hohe Lied der Subordination unter den königlichen
Willen" nannte? Er hatte recht, so lange es als dieses Lied interpretiert
wurde. Heinrich von Kleist hat es offenkundig nie so gemeint, zumindest wird
das nach dieser Inszenierung unter epochaler Patina sichtbar. Kleist stammte
aus preußischer Offiziersfamilie, aber er hatte mit seinem Abschied von der
Armee auch Abschied genommen vom preußischen Reglement. Mit seinem
„Homburg" sann er auf Polemik gegen dynastisch beschränkte Politik, die
Zeichen der Zeit poetisch deutend. 1809 hatte Schill ohne Befehl des Königs auf
eigene Faust losgeschlagen. 1809 hatte sich Blücher bereit erklärt, ohne
Befehl des Königs zu handeln. Des Monarchen absolute Gewalt erwies sich in der
Wirklichkeit als relativ. Nun ritt Kleist seine dramatische Attacke, mit der er
eben dies weithin publik zu machen suchte. Zwar obsiegt Subordination im äußeren
Ablauf des Stückes, aber die Fabel erzählt mehr: Die Sternstunde einer vitalen
Persönlichkeit, die im ursprünglichen Drange ihres Menschseins stupide gesellschaftliche
Normen unfreiwillig ad absurdum führt. Homburg, der traumwandelnde General der
Reiterei, tatendurstig im seelischen Höhenflug seiner Liebesromanze,
provoziert arge Verlegenheit bei Hofe. Unversehens hat der Kurfürst alle Mühe,
in Sachen militärischer Gehorsamspflicht ein Exempel zu statuieren. Und Kleist
sorgt, daß der Herrscher — wenn er schon eine glückliche Hand hat — ob seiner
geistigen Haltung komische Figur macht. Der Kurfürst legt den unerfahrenen
Homburg taktisch clever aufs Kreuz, doch wohl nicht das lebenserfahrene
Publikum.
Dresen holt die Patina vom Stück,
indem er sozial konkret spielen läßt, jeder Figur seelischen Reichtum und
unverwechselbare gestische Züge gibt. Er macht des Dichters historische
Klugheit schaubar, ohne dessen objektive Beschränktheit hämisch anzumerken. So
gewinnen die Figuren lebendige Plastizität, sie werden nicht gezeigt, sie
dürfen spielen. Und das Spiel begibt sich straff und zügig, ohne falsches
Pathos, mit komödiantischer Verve.
Homburg wirkt in der Darstellung von
Alexander Lang wie ein sensibler großer Junge, der unbesonnen über die Stränge schlägt.
Nonchalant-verträumt disputiert er mit Freund Hohenzollern, burschikos erkundet
er die Sache mit dem Handschuh. Verliebtheit und aufkommende Gewißheit sind
allemal wichtiger als subalterner Befehlsempfang. Zu spät kommt er zur
Schlacht, schlaksig, ahnungslos, den Mantel zerknautscht — zivil geschnürt,
die Waffe beiläufig gegürtet, den Hut eher wie für
ein charmantes Abenteuer in die Stirn gezogen. Nun wird da also gekämpft. Sieh
da! Und im Höhenflug seiner verliebten Seele stürzt er sich ins Getümmel, das
Opfer seiner ganz und gar unpreußischen Phantasie. Er muß mit der Staatsraison
kollidieren, früher oder später — so sehr er sich dann an eben diese klammert,
der treue und herzige Sohn seines Herrschers. Den Kurfürsten gibt Dieter
Franke, stiernackig, rabulistisch, die Verse herauswetternd, ein kampfeslustiger
Souverän. Siegessicher setzt er sich zurecht, der Absolute, um die aufsässigen
Generale zu empfangen, keinen Schritt gedenkt er zu weichen, und gerade das
macht ihn komisch, gibt dem Stück seine Dimension. Den akkuraten, redlichen
Graf Hohenzollern spielt Klaus Piontek, sprachlich vorzüglich, distinguiert in
der Geste. Gerhard Bienert als Obrist Kottwitz argumentiert mit Herz und Witz,
ein markanter Widerpart dieses Kurfürsten. Bärbel Bolle verströmt Liebreiz und
Gefühl, eine emotional reiche Natalie. Wenn der Inszenierung in dem
preußisch-strengen wie romantisch-zarten Bühnenbild von Hans Brosch letztlich
der große Glanz versagt bleibt, dann wegen der gelegentlichen Mühen der
Darsteller mit Kleists Versen. Zur Poesie des realistischen Vorganges gesellte
sich nicht die klare Schönheit der Kleistschen Sprache, insofern blieb ein
„letztes Geheimnis" der Form noch immer unerschlossen.
Erschlossen in reichem Maße, auch sprachlich,
wurde „Der zerbrochne Krug", die Geschichte vom Dorfrichter Adam, im
sachlich-dienlichen, Spielräume gewährenden Bühnenbild von Hans Brosch. Zwar
boten die Repliken des Mißverständnisses und der Verdrießlichkeit am Anfang
des Stückes ein Aneinandervorbeireden ohne gemäßen darstellerischen Ausdruck,
fast so etwas wie verschmitzte Kleistsche Vorwegnahme absurden Theaters, doch
fand sich das Spiel bald zu großer schauspielerischer Akribie.
Dieter Franke vor allem reihte als
Dorfrichter Adam mimische Erfindung an mimische Erfindung, ein Feuerwerk an
Einfällen, ohne sich zu wiederholen, die Figur auf grandiose Weise
ausschöpfend. Da argumentiert und gestikuliert ein ausgekochter Opportunist,
provinziell zwar, dörfiich-muffig, grobschlächtig, aber aalglatt, trotz
Klumpfuß leichtfüßig, flink mit der Zunge, noch flinker mit den Augen, geradezu
unerschöpflich in der Beredsamkeit seiner Hände. Er biedert sich an und er
tritt ins Fettnäpfchen, er streichelt die Volksseele und er tritt sie mit
seinem Klumpfuß, er wird in die Enge getrieben, alle Felle schwimmen ihm davon,
er aber sinnt unverdrossen, das Ding zu seinen Gunsten zu drehen.
Bemerkenswert auch hier, daß Regisseur Dresen keine Figur
denunziert, daß er sie plastisch, organisch agieren läßt, empfunden aus den
konkreten sozialen Bedingungen, doch ohne den sozialen
Gestus wie ein Korsett über die Figuren zu schnüren. So entfesselt er
ursprüngliches, kreatives Theaterspiel. Selbst der ironisch abgesetzte Schluß,
den rabiaten Zugriff Ruprechts relativierend, fügt sich in diese kommunikative
Spielweise. Da ist kein vertrottelter, vordergründig „preußischer"
Gerichtsrat Walter zu sehen, vielmehr ein um das Ansehen der Gerichtsbarkeit
ringender aristokratischer Beamter, von Dietrich Körner mit vornehmer
Zurückhaltung und spitzer Polemik ausgewogen gespielt. Zugunsten der
enthüllenden Heiterkeit des Lustspiels gerät das Duell zwischen Adam und
Walter possierlicher als das zwischen Adam und Frau Marthe. Allerdings gibt
Elsa Grube-Deister die Marthe zwar rechtschaffen aufgebracht, aber zu wenig
selbstbewußt, ihr fehlt Härte und Deftigkeit. Alexander Langs Ruprecht ist nicht
von schneller Zunge, bedächtig und ein wenig einfältig spult er seinen Bericht herunter,
der Figur einen eigenen Reiz aufkeimender Selbstbewußtheit gebend, die sich
schließlich in handgreiflicher Tat entlädt. Prächtig der Licht von Klaus
Piontek. Wie er seine Chance wittert, wie er nichts falsch machen möchte, wie
er hellwach das Geschehen verfolgt, um sich gegebenenfalls ins rechte Licht setzen
zu können, das ist genau gefunden und glänzend gespielt. Bärbel Bolle gibt die
Eve deutlich mit der scheuen Zurückhaltung einer in den Fall Verstrickten, aber
insgesamt doch wohl zu brav, zu sehr als bieder-holde Tugendsame, die sie wahrhaftig
nicht ist. Mathilde Danegger als die den Teufel ahnende Frau Brigitte bringt
schön die milde geistige Beschränktheit dieser Figur ins Spiel.
Schien das Anbieten beider Stücke an
einem Abend zunächst nur ein äußerer Einfall, fügte der Interpret Dresen doch
eine interessante Klammer: Der adlige Homburg nimmt seine spontane Tat, brandenburgische
Interessen daran zu knüpfen, soziale lediglich als „Traum" vermutend,
Ruprecht hingegen, der Bauer, schreitet zur Tat, spontan auch, aber nicht
impulsiv-verträumt, sondern erkennend, irdisch-kräftig, mit sozialer Stoßrichtung.
(Bei Kleist bezieht sich Homburgs „Nein sagt! Ist es ein Traum?" auf seine
unerwartete Rettung, Dresen gibt diesem Satz vielsagenderen Sinn.) Gewichtiger
als der Gewinn eines vagen Zusammenhanges beider Stücke ist der Gewinn an
Perspektive für unsere Schauspielkunst. Ganz offensichtlich ist die notwendigerweise
ausgiebige Auseinandersetzung mit Kleist, das behutsame Hervorholen hinter
vielschichtiger Patina, das differenzierte historische Einordnen, das
Bekenntnis zum Tragikomiker, das Empfinden für seine romantische Phantasie, das
Mühen um seine Sprache — ganz offensichtlich hat all dies unserer zuweilen
überrationalisierten Schauspielkunst einen Hauch schöpferischer Ursprünglichkeit
vermittelt, der ihr gut ansteht.
Theater
der Zeit, 8/1975