„Kriemhilds Rache“ von Friedrich Hebbel am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

Der mystischen Rache verfallen

 

 

Die Burgunder Recken der Siegfried-Sage sind Menschen. Keine imaginären, von der Welt abgehobenen Helden. Schon gar keine hymnisch tönenden Theatermonster. Nein, Menschen! Eben das macht die ganze Ungeheuerlichkeit aus. Denn der Homo sapiens auch dieser Tage sinnt wie schon in mythischer Zeit noch immer auf Rache. Nicht unbedingt auf mörderische, gewiß, aber auf Rache doch. Oder etwa nicht in Deutschland?

Die Antwort gebe sich der Zuschauer selbst, der Thomas Langhoffs Inszenierung des Trauerspiels „Kriemhilds Rache" von Friedrich Hebbel im Deutschen Theater in Berlin besucht. Keine vordergründige, mit Verfremdungen erzwungene Aktualisierung wird er erleben, sondern das Werk vom nationalistischen Klischee befreit und in dessen substantieller Wertigkeit erkundet.

Widersprüche. Die Identifikation mit der überkommenen Sage rückt die Geschehnisse merklich in Urväter Zeiten, trotz moderner Kulissen (Pieter Hein). Andererseits holt eine Erzählerin (Bärbel Bolle), die unter Verwendung des Nibelungenliedes mit penetranter Inbrunst wie ein oratorischer Testo mythische und historische Zeitläufe und Zusammenhänge einbringt. Das hat etwas von beschwörender Bedeutungsvolligkeit. Ein erfrischend ironischer Kommentator hingegen, etwa mit Eberhard Esche besetzt, hätte die hehre Gewichtigkeit kontern und dem Zuschauer helfen können, die mörderische Mär unbelasteter, mit Distanz und Nähe, jedenfalls nicht bierernst zu nehmen.

Hinwiederum - die Zeiten lassen keine Distanz zu. Noch heute zerfleischen sich Völker wider jede Vernunft. Möglicherweise geht es sogar um einen Schatz irgendwo in einem Fluß, und die Medien und die Waffenlieferanten verraten es uns nur nicht. In der blutigen Auseinandersetzung zwischen den Nibelungen und Etzels Hunnen geht es sehr wohl letztlich um Gold. Langhoff weiß das zu akzentuieren.

Aber es dreht sich halt auch darum, daß eine stolze, selbstbewußte Frau den Mord an ihrem Gatten nicht verzeihen kann. Obendrein ist sie eine derer von Burgund, also nicht minder borniert als Hagen Tronje, der Mörder Siegfrieds. Dagmar Manzel führt Kriemhild nicht primär als böse Rächerin vor, sondern als von Haus aus eher sanftes, gutmütiges Weib. Die Totenprobe im Dom (womit die Aufführung beginnt) erhellt ihr die Wahrheit. Heiliger Zorn erfaßt sie, wenn der Bruder, König Günther (Götz Schubert), ihr nicht Gerechtigkeit verschafft. Und als ihr Markgraf Rüdiger (Klaus Piontek) Etzels Heiratsantrag überbringt, begreift sie sofort die sozusagen historische Chance. Sie will keinen Krieg, sondern Mord mit Mord beantworten. Doch wer vermag schon ausgebrochene, eskalierende Konflikte zwischen Völkern zu steuern!

Langhoff forciert nie zugunsten äußerlicher Theatralik, was ihm den Vorwurf von Behäbigkeit einbringen mag. Er setzt ganz und gar auf die nachvollziehbare Sinnlichkeit des Gedankens, den er seine Schauspieler mit dem Vers überaus konkret produzieren läßt. Und zwar minutiös situativ, wie es eine Rarität ist auf deutschen Bühnen. Ergötzend, diesen Darstellern zuzusehen, zuzuhören.

Daniel Morgenroth als Siegfried (mit Sequenzen aus der ersten und der zweiten Abteilung der Trilogie als Rückblenden einmontiert). Ein kraftvoll jugendlicher Heißsporn, ein leidenschaftlicher Jüngling, ein Hoffnungsträger. Jörg Gudzuhn als Hagen. A priori kein militanter Haudegen. Eher ein vorlauter Großkotz, der das Wort an sich reißt, das eigentlich dem König gebührt. Ein aalglatter Demagoge. Dabei ist er cool tief in der Seele. Wie eben die Männer, die Geschichte machen. Und wenn er Kriemhild ihren schuldvollen Anteil vorwirft, verhält er sich wie einer, der sehr wohl weiß, wie recht er hat.

Dietrich Körner gibt den Etzel als einen bulligen, kindernärrischen Herrscher. Ihm glaubt man nicht so ohne weiteres, daß er einst als wendiger, wilder Reiterkönig sein Reich zusammeneroberte und stolze Fürsten zu seinen Vasallen machte. Jetzt will er Frieden und kein Ungemach für seine Gäste, selbst wenn es die Nibelungen sind. Er steht zu seinem Wort. Doch seine Macht ist nicht absolut. Das Verhängnis bricht über ihn herein. Wenn er, ein gebrochener Mann, die Welt, die er zu tragen vermeint, auf dem Buckel Dietrich von Berns (Friedo Solter) ablädt, ist das kein Trost. Die Zeiten, so ahnt man, werden vorerst mystisch bleiben. - Stürmischer, langanhaltender Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 26.September 1994