„Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

Der Sowjetstern hängt einsam im Gebälk

 

Am Deutschen Theater in Berlin wartet Hausherr Thomas Langhoff mit einer Inszenierung des »Kaukasischen Kreidekreises« auf, die weder episierend in sich ruht, noch sich in turbulent-äußerlichem Volkstheater verliert. Der Regisseur, der bisher wenig Erfahrung mit Bertolt Brechts dialektischem Theater hat, setzt aufs Dramatische. Er sucht prononciert das deftige Lustspiel und entzaubert zugleich das uralte Märchen, indem er es mit rauher Gegenwärtigkeit mischt. Wenn der Abend auch nicht durchweg überzeugt, gefällt er doch wegen seiner strotzenden Widersprüchlichkeit.

Als Spielort dient der Saal eines verrotteten Klubhauses. Pieter Hein hat ihn hingebaut: Die Türöffnungen hohl. Die Decke heruntergefallen. Nur der Sowjetstern hängt noch einsam im Gebälk. Offenbar ist im Kaukasus nicht nur ein Staatssystem zusammengebrochen, ein verheerender Krieg scheint die Folge gewesen zu sein. Obwohl dergestalt von der Szene eine konkrete Endzeit signalisiert wird, versammeln sich Delegierte zweier Kolchosen, um unter Genossen über ein strittiges Tal zu verhandeln. Und so elend ihre Lage auch ist, sie haben sogar noch die Kraft, das leidige Immobilien-Problem mittels Kunst zu entspannen; nämlich durch das Vorspielen der alten Sage aus dem Chinesischen, worin - vor allem am Beispiel eines Kindes und zweier Mütter - verhandelt wird, wem was warum gehören sollte.

Bei Brecht, als er 1954 am Berliner Ensemble inszenierte, spiegelte sich in der alten Mär eine junge Hoffnung, und zwar auf eine Zeit, in der in Fragen des Eigentums im Interesse der Arbeiter und Bauern entschieden werden würde. Daher war Ernst Busch der ideale Darsteller des plebejischen Richters Azdak, der zwar aus dem Bauch, aber eben dadurch in Vorwegnahme einer Volksherrschaft Recht spricht. Mit dem integren Volksschauspieler verband der Zuschauer die ungebrochene und noch wachsende Zuversicht auf einen wohltuenden Zustand sozialer Gerechtigkeit - auf ein Märchen leider, wie uns die Geschichte inzwischen gnadenlos gelehrt hat. Eben dies bringt Langhoff jetzt ernüchternd ins Bild.

Kein naiver Glaube also an irgendeine ideale Gesellschaft, an rebellische Panzerreiter als humane Aufständische etwa, vielmehr Verweis darauf, daß Soldaten, mittlerweile mit Gewehren bewaffnet, letztlich immer wieder den jeweils Mächtigen dienen. Und die Gerechtigkeit hat nur eine minimale Chance; in kurzen Zeiten des sozialen Umbruchs nämlich, wenn alte Herren gegangen wurden und neue Herren noch nicht haben Fuß fassen können. Erzählt mithin wird, so komisch es zugehen mag, von brutalen Verhältnissen. Wofür der Regisseur den idealen Azdak fand: Klaus Löwitsch, den gestandenen TV-Krimi-Helden Peter Strohm.

Der Schauspieler, der 16 Jahre nicht auf einer Bühne stand und nach eigener Aussage ein Brecht-Fan nicht unbedingt ist, spielt dessen Volksfigur mit Bravour. Ein kantiger, ruppiger und äußerst gewiefter Lumpenproletarier laviert sich durchs Leben und jongliert schließlich mit dem Recht. Wobei er auf den Geschmack kommt, nicht nur, weil ein Richter die Hand aufhalten kann. Wenn er für Grusche richtet, dann trotzig gegen die an die Macht zurückgekehrte Adelskaste. Löwitsch fügt sich überraschend homogen ins Ensemble. Er läßt sich Zeit, kann zuhören, ist gestisch variabel. Manchmal im Tonfall scheint er dem Strohm näher als dem Azdak.

Die Küchenmagd Grusche der Petra Hartung ist weder einfältig noch störrisch, vielmehr von schöner, kraftvoller Naivität. Bei der Verteidigung des Kindes, wenn sie Azdak widerspricht und sich gegen die dünkelhafte Gouverneurin Abaschwili (Dagmar Manzel) und deren arrogante Anwälte (Reimar Joh. Baur und Horst Hiemer) aufbäumt, wächst sie in lauterer Anklage über sich selbst hinaus. Simon Chachava, ihr Verlobter, von Tilo Werner als eingefleischter kleiner Militär und irgendwie armer Junge liebevoll vorgeführt, überwindet sich selbst und bekennt sich zu ihr.

Langhoff, der weitere Große seines Ensembles aufbietet (Käthe Reichel, Christine Schorn, Barbara Schnitzler, Gabriele Heinz und Ulrike Krumbiegel sowie Dietrich Körner, Thomas Neumann, Thomas Dannemann und Kay Schulze), fasziniert immer dann, wenn dramatische Situationen individuell auszuspielen sind. Zart anrührend die Werbung Simons um Grusche, herrlich komisch deren unfreiwillige Hochzeit. Eher schwer tut sich der Regisseur, wenn er szenisch illustriert. Grusches kühner Gang über den Gletschersteg beispielsweise bleibt theatraler Hintergrund.

Dennoch: Die an Höhepunkten wahrlich nicht reiche Berliner Spielzeit bekam etwas Glanz. Viel und herzlicher Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 1. April 1998