„Kreidekreis“ von Bertolt Brecht, Gastspiel des Cheo-Theaters Hanoi, Regie Alexander Stillmark

 

 

 

 

 

Schauspielkunst – aus reicher Tradition gewachsen

 

Blumen wurden auf die Bühne geworfen. Die Gäste aus Vietnam nahmen sie auf und applaudierten dem Publikum. In ihren Gesichtern spiegelte sich freudige Erregung. Dies erste Gastspiel des Zentralen Cheo-Theatens Hanoi in Berlin zählt zu den Höhepunkten der diesjährigen Festtage.

Die Cheo-Kunst läßt sich zurückverfolgen bis ins 10. Jahrhundert. Bauern haben sie gepflegt und in der Feudalgesellschaft weitergegeben als ihr künstlerisches Instrument geistigen Austausches über die Gutherzigkeit des Menschen, über seine Liebessehnsüchte wie über diese und jene Bösartigkeiten. In den Jahren der Kolonialherrschaft drohte die uralte Form nationaler Theaterkunst auszusterben. Doch schon während des Kampfes gegen die französischen Okkupanten wurde 1952 auf Beschluß der Partei eine Cheo-Theatergruppe gebildet, um das kostbare kulturelle Erbe lebendig zu bewahren.

Das Publikum wird in das Spiel einbezogen

Es ist dies ein zutiefst plebejisches Theater von großer darstellerischer Ursprünglichkeit. Unmittelbares, derb-direktes, meist komisches und darlegendes Spiel durchdringen sich und wechseln mit volksliedhaft lyrischen Gesängen. Vorherrschend sind singspielartige Duette. Jeder Spieler beherrscht eine Vielzahl gestischer Verhaltensmuster wie etwa das Trippeln eines alten Mannes oder das Gliederschlottern eines Ängstlichen.

Rechts auf der Bühne sitzt das kleine Instrumentalensemble mit der „Volkstheater-Trommel", der Röhrengeige, dem Flachgong, dem Holzblock und weiteren Instrumenten; links ein Chor hübscher Frauen. In der Mitte liegt ein großer, einfacher Teppich, auf dem meist barfüßig agiert wird. Nur die Darsteller der Adligen, der reichen Bauern und der Mönche tragen Schuhwerk. Auffällig der „Zutrommler", ein Spieler mit hölzerner Röhrentrommel, der gelungene darstellerische Leistungen dem Publikum besonders anempfiehlt und gelegentlich Chor und Zuschauer auffordert, sich durch Zuruf unmittelbar zum Geschehen zu äußern. Eine sehr kommunikationsfreudige Theaterkunst also, deren tradierter Formenkanon dennoch offen bleibt gegenüber neuen Impulsen.

An einem Abend zeigten die Gäste eines ihrer klassischen Stücke: „Die heilige Thi Kinh". Als junge Frau (gespielt von Doan Thanh Binh) will sie ihrem schlafenden Gatten ein böses Barthaar liebevoll mit dem Rasiermesser entfernen. Er erwacht, glaubt, sie wollte ihn umbringen, und verstößt sie. Als Mann verkleidet geht sie in ein Kloster. Dort wird sie von Thi Mau, einer reichen Bauerntochter, umworben. Dies ist die „Mönchsflirt" genannte Szene, in der Thi Mau, dargestellt von der charmanten Nguyen Dan Quoc, alle erdenklichen Verführungskünste einsetzt und doch erfolglos bleibt. Die verschmähte Schöne nimmt mit einem Diener vorlieb, bekommt ein Kind und erklärt vor Gericht den Mönch zum Vater. Thi Kinh wird aus dem Kloster vertrieben. Unter Entbehrungen zieht sie das von Thi Mau ausgesetzte Kind auf. Als sie stirbt, kommt endlich die Wahrheit ans Licht. Der Abt — gestikulierend wie ein Zeremonienmeister — bittet Buddha, Thi Kinh als Heilige anzuerkennen.

So wurde von der Cheo-Kunst selbstlose Mütterlichkeit gepriesen und gewürdigt. Zugleich ergab sich Gelegenheit, kritikwürdiges Verhalten zu glossieren — etwa, wenn Mutter Dop dem geschwätzigen Dorfschulzen die Silben vom Munde nimmt und in ihr Brusttuch steckt, oder wenn der Ehrgeiz der Dorfältesten verspottet wird, unbedingt das letzte Wort zu haben. Unsere ersten Eindrücke vom Cheo-Theater danken wir den Regisseuren Tran Bang und Chu van Thuc.

 

Interessante Version von Brechts „Kreidekreis"

Ein Beispiel der Offenheit gegenüber neuen Impulsen ist die Inszenierung des „Kaukasischen Kreidekreises" von Bertolt Brecht, die Alexander Stillmark vom Deutschen Theater 1983 besorgt hatte. Gewiß kam das Thema dem moralisierenden Wesen der Cheo-Kunst entgegen. Andererseits verstand es Stillmark, das Stück mit den traditionellen künstlerischen Mitteln dieses Theaters zu erzählen. Er nutzte die darlegend-epische, mitteilsame Spielweise, die Einführung und Kommentierung des Geschehens durch Sänger und Chor, schließlich die mimischen Fertigkeiten der Clowns, letztere speziell für Azdak und die Panzerreiter.

Die grazile Minh Thang spielte mit rhythmisch-harmonischen, tänzerischen Bewegungen eine sensible Grusche, die tapfer und zäh kämpft. Im Hochgebirge geht sie mutig über den schmalen Gletschersteg. Eine ausdrucksvolle Pantomime. Ihr Kind verteidigt sie gegenüber Azdak als eine stolze und furchtlose Mutter. Zauberhaft schön sind ihre Begegnungen mit Simon (Duc Nghieu).

Azdak, gespielt vom Darsteller des Sängers (Hai Diep), daher dem Publikum bereits vertraut, ist zwar ein kleiner Saufaus, aber ein intelligenter Bursche aus dem Volke, der sich selbstbewusst-schnoddrig auf dem Richterstuhl niederhockt, als sitze er am Straßenrand.

Das Gastspiel brachte eine eindrucksvolle Begegnung mit vietnamesischer Kultur, mit ihrer unbedingten, bekennenden Menschlichkeit. Wir erlauben uns zu sagen: Wiederkommen!

 

 

Neues Deutschland, 9. Oktober 1985