„Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht, Gastspiel des Théàtre Vidy-Lausanne im Berliner Ensemble, Regie Benno Besson

 

 

Eine Zeit beinah der Gerechtigkeit

 

Fröhlich zustimmender Applaus im Berliner Ensemble zum Urteil des Richters Azdak: Das Kind Natella Abaschwilis, der Gouverneursfrau, spricht er nicht der leiblichen, sondern der wahren Mutter zu, und die Güter der Witwe vermacht er der Stadt, auf dass die einen Garten für Kinder einrichte, der „Der Garten des Azdak“ heißen soll. Ovationen für das Ensemble des Théàtre Vidy-Lausanne aus der Schweiz, das mit Brechts epischer Parabel „Der kaukasische Kreidekreis“ im Berliner Ensemble gastierte. Rhythmischer Beifall. Nicht zuletzt für Benno Besson, den 79-jährigen Regisseur, der mit dieser Inszenierung für ein paar Tage an eine Stätte seines Berliner Wirkens zurückgekehrt war. Unvergessen seine hinreißende Inszenierung von „Pauken und Trompeten“ von Farquhar/Brecht mit Regine Lutz und Wolf Kaiser aus dem Jahre 1955.

Was Benno Bessons Regiehandschrift schon damals auszeichnete, ist auch diesmal zu erleben: Anschaulichkeit der Fabel, vermittelt mit komödiantischer Verve. Besson ist sich und Brecht, seinem Dichter wie Förderer, treu geblieben. Er bietet die Substanz der Geschichte, deren menschliche Botschaft wie deren komische Brechungen, und das plastisch, deftig, originell, gemäß. Der ihm seit langem verbundene Ausstatter Ezio Toffolutti (hier zuständig für Bühne, Kostüme und Masken) hat ihm ein einfaches, schnelle Szenenwechsel erlaubendes Bühnenbild gebaut. Es funktioniert elementar für die sinnfällige Präsentation des Theatermärchens vom Küchenmädchen Grusche, der Mütterlichen, welcher Richter Azdak das „hohe“ Kind zuspricht, weil sie es behütet und genährt hat in widriger Zeit.

Brechts eigentliche Idee ist vorerst dahin, abgestraft von der Geschichte, nämlich „dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind...“ Dem Dichter war es ja 1944/45 zwar sehr wohl um die wahre Mutter gegangen, aber nicht minder - dargelegt in der ersten Szene seines Stückes, einer Art Rahmenhandlung - um die Besitzgüter in Grusinien. Er sprach sie denen zu, die sie bewirtschafteten, nachdem die Naziokkupanten aus den kaukasischen Dörfern, die sie verwüstet hatten, vertrieben worden waren

Brecht „spiegelt“ den Grusche-Konflikt, zeigt, wie Mitglieder zweier Kolchosdörfer versuchen, den Streit um ein Tal zu schlichten. Sie bereiten sich den Fall mittels des Theaters ein wenig auf, nämlich mit einem Spiel aus dem Chinesischen, mit der uralten Sage vom Kreidekreis. Wie sie, die einfachen Leute, über Besitz und Krieg denken, über Mächtige und Beherrschte, über das Schicksal einer Küchenmagd zwischen den Fronten, spielen sie sich vor, naiv, unvermittelt, drastisch.

Besson strich die erste Szene, die idealisierte Lobpreisung kollektiver Weisheit, und konzentrierte sich auf die eigentliche Handlung, die realistische Version der Sage - Grusches lebensgefährliches Ringen um das Kind und schließlich Azdaks weise Entscheidung. Wenn der in den Kriegswirren unerwartet zu Amt und Würde gekommene Volksrichter einer „Zeit beinah der Gerechtigkeit“ sein Urteil spricht und seine Robe abwirft, um sich davon zu stehlen, ist die Geschichte auf den Punkt gebracht. Nicht zufällig applaudiert just hier das Publikum.

Wahrhaft ergötzendes Theater! A priori flottes, aber konzentriert präzises Spiel. Agile Typen, mit Masken und skurrilen Gesten stilisiert, an historische Puppen erinnernd. Sie hasten herbei, bringen ihren Part, huschen hinweg. Wunderbare Erfindungen. Kazbeki, der fette Fürst (Christian Hecq), als ein wandelndes, schaukelndes, schwankendes Fass. Sein Neffe (Philippe Marteau) als eine Marionette, ein dekadenter Fatzke mit Fistelstimme. Der Gouverneur (Gilles Privat) ein müder Potentat mit verhauchtem Stimmchen.

Überhaupt die Sprache! Im Französischen lässt sich der Text hurtig sprechen, ohne an Eloquenz zu verlieren. Das ermöglicht eine zügige, an die Eigenart der Commedia dell’arte erinnernde Spielweise und mannigfaltige Nuancierungen. Eindrucksvoll die sprachliche wie spielerische Desavouierung Natellas, der arrogant-mondänen Frau des Gouverneurs (Zoé Lebreton), der kriegswütigen Panzerreiter (Laurent Boulanger, Bruno Dani) oder der inkompetenten Ärzte (Nicolas Serreau, Claude Barrichasse).

Besson - wie gesagt - setzt auf Anschaulichkeit. Bestimmte Bilder stellt er groß aus. Die Flucht Grusches über die Gebirgsschlucht, die Waschung ihres angetrauten, wieder auferstandenen fremden Gatten Jussup (Francois Berté). Von eigener Poesie die Begegnung Grusches mit Simon (Mathieu Delmonté), ihrem Verlobten, an einem Bach aus hellblauem, sich wölbendem Tuch. Er von steifem, sprödem Männerstolz als frisch gebackener Zahlmeister, sie hin- und hergerissen zwischen dem wieder gefundenen, geliebten Mann und ihrem Kind. Die Grusche ist in der Gestaltung von Coline Serreau von schöner, emanzipierter Selbstbewusstheit.

Insofern ist sie dem Richter Azdak, dem ehemaligen Dorfschreiber, gespielt von Gilles Privat, eine echte Kontrahentin. Privat zeigt keinen lumpenproletischen Saufaus, sondern einen lavierenden, geschickt taktierenden Lebenskünstler aus dem Volke. Der Mann hat ein Gespür für die Zeichen des Zeit, und so wundert es gar nicht, wenn er sich erst einmal aus dem Staube macht, als die Machtverhältnisse im Lande wieder einmal zu kippen drohen.

Das zauberhaft theatrale Geschehen mit Liedmelodien Paul Dessaus wird bei Besson übrigens nicht von einem Sänger kommentiert, sondern von einem dezent, aber unüberhörbar agierenden Chor, bestehend zumeist aus drei Frauen, gelegentlich drei Männern. Das gibt der Aufführung eine besondere Note, bringt mehr Kompetenz, mehr Öffentlichkeit ins Spiel. Deutlicher denn je ist Grusches ach so menschliche Verstrickung nicht nur eine in ihre große mütterliche Seele, sondern vor allem eine in die Widrigkeiten des Krieges. Humanistisches Theater tut gut.

 

 

Neues Deutschland, 19. Juni 2002