„Der eingebildet Kranke“ von Molière an der Volksbühne Berlin, Regie Horst Bonnet

 

 

 

Komödie in kunstvoller Manier

 

Wenn an der Volksbühne Jean Baptiste Molieres Komödie „Der eingebildet Kranke" inszeniert wind, muß man nicht unbedingt eine in naturale Bilder gesetzte Sozialstudie erwarten. Zuallererst ist Theater gefragt, das Vergnügen bereitet. Aber läßt sich das noch bewerkstelligen mit diesem Stück?

Als der schwerkranke französische Dichter — schon immer in literarischer Fehde liegend mit der „Kunst" der Ärzte — sein Werk 1673 uraufführte, war das ein sarkastischer Angriff auf medizinische Scharlatane, die sich wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit dogmatisch verschlossen. Auch war's eine Attacke auf die Dummheit derer, die sich von gewissenlosen Quacksalbern ausplündern ließen. Weder die eine noch die andere Borniertheit kann heutzutage Zielscheibe des Spottes sein. „Eingebildet" Kranke schließlich sind kaum noch anzutreffen, schon eher einmal ein „vorgetäuscht" Kranker. Auch von daher bietet sich mithin nicht viel Gelegenheit, zwischen Bühne und Zuschauerraum eine amüsante Kommunikation zu organisieren. Gastregisseur Horst Bonnet nun setzte zunächst auf Argan, der sich einbildet, krank zu sein, und läßt ihn beim Publikum um Gunst und Verständnis buhlen. Derlei freundliche Anbiederung funktioniert in unseren aufgeklärten Zeiten nur, wenn der Darsteller angehalten ist, ständig zugleich die ja wohl notwendige Kritik der Figur zu spielen. Solch heutiger Schauspielkunst mögliche Dialektik wurde jedoch leider kaum sichtbar.

Andererseits löste Bonnet die dramatischen Vorgaben des Dichters nicht in Alltäglichkeiten auf, auch modelte er nicht gegenwärtige Verhaltensweisen in sie hinein. Er suchte unumwunden den betont kunstvollen Stil: Molière gleichsam in klassizistischer Manier. Mit einem tänzerisch-galanten Vorspiel und den nur angedeuteten Zwischenspielen wird das „Lustspiel mit Tänzen" in eine verklärte Kunstwelt gerückt. Über das historisch getreue Kostüm (Werner Schulz als Gast stattete die Männer mit Rhin-grave-Beinbekleidung, Wams und Übergewändern aus, die Damen mit Dekolleté und Taille) und über die wohlgeformte Gebärde erhalten die Figuren das theatralische Timbre der Entstehungszeit des Stückes. Möglicherweise hätte es niemanden verwundert, wenn König Ludwig XIV. gelegentlich einer Tanzeinlage höchstselbst aufgetreten wäre.

Dieserart konservatives Theater hat — einmal wieder ausprobiert — durchaus seine Reize. Können die Schauspieler ihr mimisches Vermögen doch plastisch direkt einbringen. Allen voran Walfriede Schmitt als dralles Dienstmädchen Toinette, die in Argans Krankenstube ein wahres Feuerwerk an selbstbewusst-dreister Aufsässigkeit abbrennt. Ihre ansteckende plebejische Munterkeit goutieren die Zuschauer gern, selbst wenn die Darstellerin im Eifer hier und da überzeichnet. Diese Toinette wird bei Bonnet zu einem Drehzapfen der Aufführung, gewissermaßen sogar zu einer Legitimation für die Entscheidung, das Stück in den Spielplan zu nehmen. Im übrigen finde ich es gut, wenn ein Theater besondere Talente seiner Künstler so ins Treffen zu führen versteht.

Hans Teuschers Argan ist deutlich kein Opfer des Zeitgeistes, also der Torheit, aus Angst vor dem Tode zu den verheerenden Klistieren der Ärzte zu flüchten. Er ist einfach ein arger Dussel. Sein endlich rechtes Empfinden für die Scheinhelligkeit seiner zweiten Frau (apart raffiniert Marion van de Kamp) und für die aufrichtige Liebe seiner Tochter läßt für ihn hoffen. Sinnigerweise will er ja selbst Arzt werden. Die Tochter Angelique gibt Astrid Krenz als ein zartes Geschöpf mit tapferem Selbstbewußtsein.

Bei Toinette, Angelique, auch bei Cleantes (Daniel Minetti) und Louison (Schaukje Könning) ist unmittelbare Natürlichkeit im Spiel, die in echtem Kontrast steht zu Manier und Etikette. Letztere nun wird exzellent repräsentiert durch die selbstherrliche Doktorenmafia: Diafoirus (Klaus Mertens), Sohn Thomas (Reiner Heise), Purgon (Werner Senftleben) und Apotheker Fleurant (Harry Merkel).

 

 

 

Neues Deutschland, 4. /5. Januar 1986