„Das Kontingent“ von Soeren Voima an der Schaubühne
Berlin, Regie Tom Kühnel/Robert Schuster
Glückliche Menschheit?
Ist die Zeit reif für die Wiederbelebung des Lehrstücks? Wenn ich die positive Premieren-Resonanz des überwiegend jungen Publikums an der Berliner Schaubühne als Antwort nehme, scheint Tom Kühnel und Robert Schuster mit »Das Kontingent« ein höchst beachtlicher Wurf gelungen zu sein. Zwar verstecken sie ihre Autorenschaft vorsichtig hinter dem Pseudonym Soeren Voima, doch ändert das nichts an dem Eindruck, dass sie sich in der Rüstkammer des politischen Theaters recht gut auskennen.
Dort ruhen, wahrscheinlich zu Unrecht vergessen, erprobte
Mittel eines Bertolt Brecht, was Texte, und eines Hanns Eisler, was Musik
betrifft. Kühnel/Schuster holen sie hervor, weil sie ihnen geeignet erscheinen,
akute soziale Probleme der Gegenwart durchzuspielen. Und eine wissenshungrige,
nach Wahrheit dürstende junge Generation scheint liebend gern mitmischen zu
wollen. Ganz im Sinne des Konzepts des neuen Schaubühnen-Ensembles, »linke
Gesellschaftskritik im Zeitalter der Neuen Mitte« zu versuchen.
Freilich wird mit »Kontingent« weit in die Zukunft
gedacht. Was könnt' sich tun zu Wohl und Wehe der Menschheit? Die neuen Chefs
des Frankfurter TAT-Theaters, Absolventen der Berliner »Busch«-Hochschule,
exzellente Regisseure für Schau- und Puppenspieler (glanzvolles Debüt 1995 am
Maxim Gorki Theater mit »Weihnachten bei Ivanows«), jetzt mit Thomas Ostermeier
kooperierend, heben die Vereinten Nationen auf den Prüfstand. Der dafür von Jan
Pappelbaum disponierte Schauplatz erinnert an die legendäre Uraufführung der
»Maßnahme« von Brecht 1930 im Großen Schauspielhaus. Ein erhöhtes Spielpodest
inmitten hoher Zuschauerränge. Im Hintergrund damals eine Leinwand für
Projektionen, heute eine Front blauer Fahnen der UNO. Damals wie heute geht es
um einen jungen Mann, der sich in einem Konflikt zwischen Gefühl und Verstand
letztlich nicht einordnet in als ethisch höherwertig deklarierte Lebensnormen.
Bei Brecht gefährdet ein Genosse den revolutionären Kampf seiner Einheit und
wird, mit seinem Einverständnis, liquidiert, bei Voima gefährdet ein
Amerikaner die Friedensmission seines Truppen-Kontingentes und wird von einer
UNO-Soldatin hinterrücks erschossen.
Vor siebzig Jahren wurde Brecht vorgeworfen, den
Klassenkampf zu abstrakt abgehandelt zu haben. Das ließe sich auch jetzt
einwenden, zumal das Geschehen zeitlich in die Mitte des laufenden Jahrhunderts
verlegt, also rundum Fiktion ist. Aber die Konstellation ist so bedrückend
heutig wie bestürzend konkret: Einmischung in die inneren Angelegenheiten von
Völkern, die in ihrer sozialen und geistigen Entwicklung im Mittelalter leben.
Der Kaukasus scheint prädestiniert. Zwar gab es dort zu
Sowjetzeiten durchaus schon Studentinnen, also Bildung für jedermann, doch aus
heutiger Sicht ist denkbar, dass in dieser Region der Welt etwa um 2050 ein
General achtzehn Jahre tyrannisch herrschen wird und selbst ein UNO-Kontingent
nicht verhindern kann, dass eben dieser General nach seinem Sturz von
ungebildeten, manipulierten Bauern in demokratischen Wahlen wiedergewählt wird.
Der Kick des Lehrstücks von Voima alias Kühnel/Schuster ist nicht die didaktische
Lektion, sondern das geduldige, episierende Aufzeigen der unlösbar
widersprüchlichen gesellschaftlichen Sachverhalte.
Da träumt man nach Auflösung der NATO von einer glücklichen Menschheit bei
Wahrung der Gleichheit aller Geschlechter und Rassen. Die utopische Hoffnung
wird von den Darstellern hymnisch-fröhlich besungen (Musik: Matteo Vargion).
Doch wenn die Akteure betont naiv vorführen, wie das UNO-Kontingent auf
mögliche Einsätze vorbereitet wird, reißt die Kluft auf zwischen Utopie und Wirklichkeit.
Da muss nämlich eine beinharte Truppe ausgebildet werden, absolut friedfertige,
aber eben Soldaten, einsetzbar überall in der Welt, fähig, das Recht zu
verteidigen, ohne es zu brechen.
Klug hinterfragen die Autoren. Bewegend ihre Erkenntnisse, unwiderlegbar
ihre Argumente. Fazit: Eigentlich ist letztlich jeder militante UNO-Einsatz
anmaßend; und dennoch scheint er auch künftig das einzige Mittel, schlimmeres
menschliches Unheil zu verhindern.
Die Botschaft vermittelt in der Regie von Kühnel/Schubert erfreulich
unprätentiös eine engagierte Spielschar, akustisch nicht durchweg lobenswert,
darstellerisch präzis einfach, gelegentlich von dezenter Ironie. Überzeugend
das Zusammenspiel mit dem Kammerensemble Neue Musik Berlin unter Leitung von Philipp
Vandre. Solistische und chorische Partien verleihen dem Lehrstück oratorische
Züge. Die Damen Caroline Peters, Suse Wächter und Jenny Schily sowie die Herren
Lars Eidinger, Christian Weise, Garsten Hübner, Thomas Dannemann, Tobias
Maehler, Eckhard Winkhaus und Christian Tschirner - unvermutet humanistische
Aufklärer. Verkommt das deutsche Theater denn doch nicht zur kleinbürgerlichen
Pinkelbude?
Neues Deutschland, 7. Februar 2000