„Sonnenuntergang“
von Isaak Babel am Akademietheater Wien, Regie Dieter Giesing
„Walpurgisnacht
oder Die Schritte des Komturs“ von Wenedikt Jerofejew am Nationaltheater
Mannheim, Regie Hans-Ulrich Becker
Sehnsucht nach
Liebe und Wodka
Gnadenloses Dasein. Der Mensch verstrickt in die Zwänge seiner Zeit. Das Wiener Akademietheater, eine Filiale der Burg, führte ein Beispiel aus der Geschichte Rußlands vor, Isaak Babels „Sonnenuntergang", eine Familien-Tragödie. Und das Mannheimer Nationaltheater zeigte ein Beispiel aus der späten Sowjetunion, Wenedikt Jerofejews „Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs", eine Irrenhaus-Tragödie. Beiden Werken immanent: Haß zwischen Russen und Juden und Sehnsucht der einen wie der anderen nach Liebe und Wodka.
Zunächst jedoch
ein Beispiel vom Tage, eins von ganz anderer Art, nur eine Fußnote im Grunde,
dennoch des Mitteilens wert: Claus Peymann, der Chef des Burgtheaters, glaubte,
eine letzte Lanze für das Schiller Theater brechen zu müssen, trat vor den
Vorhang und zieh die Politiker der Kurzsichtigkeit und der Übereiltheit. Aber
das spürbar überraschte Publikum applaudierte nur matt. Es spendete müden Beifall
auch seiner Feststellung, daß die Intendanten eigentlich beschlossen hatten, das
Theatertreffen zu boykottieren, daß sie nun aber weiter mitspielen.
Theaterdonner alles? Längst sind die einen mit Preisen und Neuengagements
beschwichtigt, während die anderen sich im Heer der Arbeitslosen verlieren.
Peymann immerhin legt den Finger auf die Wunde. Und es ist eine Wunde! Und es
wird eine bleiben! Jeder spürt sie, der sich einen Sinn für Theater in Berlin
bewahrt hat.
Zurück in die
Geschichte. „Die Weisheit der Großväter", schrieb Isaak Babel, „sitzt mir im
Kopf: wir sind geboren, Arbeit, Kampf und Liebe zu genießen, dafür sind wir
geboren
und für nichts anderes." Babel,
den Stalin 1941 umbringen ließ, hatte 1894 in der Moldawanka, dem Judenviertel
seiner Heimatstadt, als Sohn eines chassidischen Teppichhändlers das Licht
der Welt erblickt und gab 1927 mit seinem Stück „Sonnenuntergang" in realistischem
Zugriff wie Gorki oder Hauptmann ein Genrebild von Arbeit, Kampf und Liebe im
vorrevolutionären Odessa des Jahres 1913.
Der jüdische Fuhrunternehmer
Mendel Krik, ein Bär von strotzender Gesundheit,
hat Geschäft und Familie in alttestamentarischer Strenge beherrscht. Mit 62
Jahren will er das Unternehmen verhökern und mit der jungen Geliebten nach
Bessarabien ziehen. Dem widersetzen sich die Söhne und prügeln ihren Vater zürn
Krüppel. Gnadenloses Dasein.
In herb-poetischen Szenenbildern von
faszinierender Schönheit (Bühnenbild Karl-Ernst Herrmann), jeweils plastisch
herausgeleuchtet (Beleuchtung Peter Watzek), gibt
Regisseur Dieter Giesing acht theatrale Sittengemälde,
filigran im Detail, feinsinnig in Menschenkunde. Güte (Fritz Muliar als
Schamess) und Hinterlist (Franz Csencsits als Fomin). Urwüchsigkeit und Verrohung.
Hans Michael Rehberg als Krik. Er wuchtet einen leidenschaftlichen Rüpel hin,
einen egoistischen Familientyrannen, einen, der lebt, um zu genießen. Dann
Benja, sein Sohn, der die Firma an sich gerissen hat. Ulrich Tukur zeigt den
rücksichtslosen Geschäftsmann. Etwa von der Sorte Unternehmer, wie sie nun
wieder in Rußland gebraucht werden...
Benja lädt zum Fest, führt den gebrochenen Vater mit dessen Frau (Kitty
Speiser) vor und Schwester Wera (Julia Wieninger), das späte Mädchen, endlich
dem Konfektionär Bojarskij (Robert Meyer) zu. Ausgelassenheit der Körper,
Versteinerung der Seelen. Und Rabbiner Ben S'charja (Otto Bolesch), der hohe
Gast, verkündet als Finale: „Es ist alles in bester Ordnung, Juden. Trinken wir
ein Glas Wodka!"
Alkohol! Wegen Mißbrauch wird der Verseschmied und Stadtstreicher
Gurewitsch, ein Jude, einmal wieder in die Psychiatrie eingewiesen. Fast könnte
man annehmen, er wollte die „Walpurgisnacht", die Nacht zum 1. Mai, bei Natalie
verbringen, einer Krankenschwester der Anstalt, die er aus früheren
Aufenthalten kennt und liebt. Auch sie übrigens liebt ihn. Im Zimmer 3, in das
er verbracht wird, kampieren kranke Russen, die ihre wachen Momente haben. Jedenfalls
scheint das so. Ganz genau wird man es nie erfahren. Autor Jerofejew, 1990 an Krebs
verstorben, weder „Staatsschriftsteller" noch Dissident, sondern
Vertreter des Untergrundes, der sogenannten „Lumpenintelligenz", der sowjetischen
Bohème, Jerofejew - so sein Freund Leonid Prudowksi über ihn - gab gern Mystifikationen,
Vermischungen von Fakten und Fiktionen. Regisseur Hans-Ulrich Becker gibt noch
einen drauf, bietet das Zimmer der Psychiatrie als Vermischung von Zelle, Turnhalle
und seichtem Pool (Bühnenbild Alexander Müller-Elmau), was die Effizienz des
Irrsinns merklich erhöht. Ergänzt mit Texten Shirinowskis.
Höhepunkt ist eine nationalistische Orgie mit der
Vision: Rußland als offensive Großmacht ohne Kommunismus! Aber die Visionäre
sterben. Gurewitsch (Rainer Bock) bringt sie und sich um. Denn nicht Wodka
hatte er ergattert auf einem Streifzug zu Natalie (Susanne Häusler), sondern
Methylalkohol, was er wußte, als er ihn einschenkte... Gnadenloses Dasein.
Neues
Deutschland, 16. Mai 1994